Wenn nichts mehr sicher ist

Russlands Krieg gegen die Ukraine zwang sie ins Exil. Wie blickt Irina Scherbakowa, deren Organisation Memorial den Friedensnobelpreis erhielt, auf ihre Heimat?

Demonstranten und bewaffnete Sicherheitskräfte stehen sich gegenüber
Putins Repressionen: Moskauer Polizisten bedrängen Unterstützer des inhaftierten Oppositionellen ­Alexej Nawalny. Foto: Sergei Savostyanov / TASS / picture alliance / dpa

Wenn ich an die letzten Wochen des Jahres 2021 zurückdenke, erinnere ich mich an ein seltsames Gefühl der Spaltung. Einerseits hatte sich der Druck auf Memorial gerade massiv verschärft; unser Gebäude in Moskau wurde von Korrespondenten staatlicher Sender belagert, um „ausländische Agenten“ zu entlarven und über unsere „subversiven“ Aktivitäten zu berichten. Während der Vorführung des Films der polnischen Regisseurin ­Agnieszka ­Holland über die Hungersnot in der Ukraine stürmten 40 maskierte junge Männer in Schwarz in unser Haus und riefen: „Faschisten! Verräter! Raus aus Russland!“ Die von uns gerufene Polizei nahm diese Leute eindeutig in Schutz. Dann verschlossen die Beamten auch noch mit Handschellen die Eingangstür von ­Memorial. Niemand konnte das Gebäude verlassen oder betreten. Dieses Bild wurde zu einem Symbol dafür, wie Geschichte und Erinnerung in Russland behandelt werden. Vielleicht wird die Episode in künftigen Geschichtslehrbüchern einmal ein Beispiel für den Putinismus und seine Folgen sein.

Genau zu dieser Zeit forderte die Generalstaatsanwaltschaft Russlands die Zerschlagung von Memorial, was eine große internationale Kampagne zu unserer Unterstützung zur Folge hatte. Hunderte von Menschen kamen, um zu zeigen, dass sie uns unterstützen. Aber trotz aller Proteste wurde Memorial vom Obersten Gericht der Russischen Föderation liquidiert. Erst einige Wochen später wurde klar, dass es sich dabei bloß um einen Teil der größer angelegten Säuberung aller oppositionellen Organisationen vor dem nahenden Krieg gehandelt hatte. Die russischen Truppen, die sich seit Herbst unter Vorwänden an der ukrainischen Grenze konzentriert hatten, wirkten Ende 2021 nicht, als würden sie bald abziehen. Im Gegenteil – es gab Informationen, dass dort bereits Lazarette eingerichtet wurden. Mir war damals bewusst, dass das sehr bedrohliche Signale waren, aber ich hatte bis zuletzt gehofft, dass ­Wladimir ­Putin keinen großen Krieg gegen die Ukraine wagen würde. Als dann am 24. Februar 2022 nachts eine SMS von meiner Tochter eintraf: „Mama, sie bombardieren Kiew!“, kam es mir vor, als wäre ich am 22. Juni 1941 aufgewacht – dem Tag, an dem die deutsche Wehrmacht die Sowjetunion überfiel.

 

Handys sind auf zwei grauhaarige Männer vor einer großen Tür gerichtet
Verbotsverfahren: Der prominente russische Anwalt ­Henri ­Reznik vertrat ­Memorial vor dem Obersten Gericht Russlands – jedoch ohne Erfolg. Foto: Gavriil Grigorov / TASS / picture alliance / dpa

 

DAS UNDENKBARE: FLUCHT NACH ISRAEL

Die anschließenden Anti-Kriegs-Proteste auf den Straßen von Moskau und St. Petersburg waren nicht massenhaft. Schlimmer noch: Ich traf dort Menschen, die diesen Krieg unterstützten und an den baldigen Sieg Russlands glaubten. Eine Woche später kamen Dutzende Polizeibeamte zu Memorial, um die Räumlichkeiten zu durchsuchen, was letztlich 15 Stunden dauerte. Als ich an diesem Tag nach Hause zurückkehrte, fand ich in meinem Mail-Eingang ein Ticket nach Tel Aviv und ein Ultimatum meiner Familie: Meine Töchter verlangten, ich sollte Russland sofort verlassen. Auswandern war für mich bis dahin nie infrage gekommen. Weder in den 1970er Jahren, in der Breschnew-­Ära, als viele Freunde das Land verließen, noch später, in den 1990er Jahren, als die Menschen hauptsächlich wegen der schwierigen Lebensumstände auswanderten und weil die Grenzen endlich geöffnet waren. Ich hingegen hatte immer geglaubt, dass ich nach Russland gehörte, zumal mein Leben und meine Arbeit in den zurückliegenden drei Jahrzehnten mit Memorial verbunden waren, was bedeutete, dass wir trotz des Drucks der Behörden unser Bestes taten, um unsere selbst geschaffene „Insel der Freiheit“ zu erhalten.

Doch am 24. Februar 2022 stellte der russische Überfall auf die Ukraine mein Leben fundamental auf den Kopf. Ich hatte keine Hoffnung mehr, weiterhin in Russland leben und arbeiten zu können. Während ich mir wenige Wochen vorher nicht hätte vorstellen können, wegzugehen – schon gar nicht nach Israel, obwohl der größte Teil meiner Familie dort lebt –, entschloss ich mich innerhalb weniger Stunden zur Ausreise. Nicht aus Angst vor Repressalien, sondern aus Wut und Verzweiflung über die von ­Putin angezettelte Katastrophe. In diesem Moment war es die einzige Möglichkeit, Russland zu verlassen. Das Flugzeug nach Tel Aviv, in das ich stieg, war bis auf den letzten Platz gefüllt und man spürte: Die meisten Leute wollten für immer ausreisen. Vor dem Abflug hatte sich eine lange Schlange von Fluggästen gebildet, die versuchten, ihre Haustiere einzuchecken. Im Flugzeug habe ich darüber nachgedacht, dass das Schicksal meiner Familie ziemlich typisch ist für russische Juden. Vor ein paar Jahren habe ich ein Buch darüber geschrieben: Meine Wurzeln liegen in Städten der Ukraine und Weißrusslands, in Gomel, Odessa, Charkow und Kiew. Das Buch erzählt die Geschichte des jüdischen Lebens vor der Russischen Revolution, als Pogrome und Assimilation bereits allgegenwärtig waren, aber auch die Geschichte des Glaubens an den Kommunismus und die Sowjetmacht, mit der meine Großeltern nach 1917 konfrontiert waren. Es erzählt zudem von meinem Vater, der im Juni 1941 im Alter von 17 Jahren aus Dnepropetrowsk in den Krieg zog, vor Stalingrad kämpfte und im Sommer 1943 schwer verwundet wurde. Und es handelt von meiner Urgroßmutter, die in Dnepropetrowsk umkam, als die Deutschen alle Juden der Stadt erschossen, sowie von meiner Mutter, die 60 Jahre lang russische Literatur an Moskauer Schulen unterrichtete und versuchte, trotz Zensur und Verboten, ihren Schülern die Idee der Freiheit des Wortes zu vermitteln.

Alle diese Geschichten verbanden meinen Vater und mich mit dem Land, dem ich nun unfreiwillig den Rücken zukehrte. Das Schicksal wollte es, dass ich Moskau genau 100 Jahre nach der Ankunft meiner Großeltern verließ. Auch meine Eltern hatten Russland nie verlassen wollen. Sie glaubten trotz aller Widrigkeiten an die Macht der Aufklärung und waren fest davon überzeugt, dass, wenn die Menschen Russlands die ganze Wahrheit erfahren würden, sie nicht mehr so leben wollten, wie sie es lange Zeit getan hatten.

Russlands unbequemes Gewissen – Irina Scherbakowa

Porträt

Mittwoch, 13.3.
— 22.55 Uhr
bis 10.6. in der Mediathek

GEGEN DAS VERGESSEN WEHREN

Ich bin also im Bewusstsein aufgewachsen, dass es das Wichtigste ist, den Menschen die Augen zu öffnen. Neben meinen Eltern war ­Alexander ­Solschenizyns Werk „Der Archipel Gulag“ (1973), das ich vor 50 Jahren heimlich an nur einem Abend durchgelesen hatte, mein Hauptanstoß dafür. Das Buch war damals ausschließlich im Westen erschienen und in Russland verboten; die Menschen in meiner Heimat bezahlten für seine Lektüre und Verbreitung mit ihrer Freiheit.

Für mich wurde das Buch so wichtig, weil es mir den Weg wies und mich inspirierte: Ich wollte fortan versuchen mit Überlebenden zu sprechen und Zeugnisse der Unterdrückung zu sammeln. Genau dieses Vorhaben führte mich zu Memorial, der Internationalen Gesellschaft für historische Aufklärung, Menschenrechte und soziale Fürsorge, die meine Mitstreiter und ich 1989 in Moskau gründeten. In den folgenden 30 Jahren bestand unsere Aufgabe darin, Fakten über politische Repressionen, Opfer und Täter zusammenzutragen, zu bewahren, zu erforschen und zu erzählen. Und sich gegen das Vergessen und die Instrumentalisierung unserer Geschichte zu wehren. Der Kampf wurde unter ­Wladimir ­Putin immer härter – und endete schließlich mit unserer Niederlage und meiner Flucht nach Israel.

Wie geht es nun weiter, hier im Exil? Emigration ist generell eine komplexe Angelegenheit, sie stellt Menschen vor ganz unterschiedliche existenzielle Herausforderungen. Eine davon ist die Frage, die ich mir gleich nach meiner Ankunft in Israel gestellt habe: Was soll man im Exil arbeiten – und für wen? Zum Glück hatte ich ja bereits familiäre Verbindungen in das Land.

Vor der Perestroika hatten wir in der Sowjetunion viel Antisemitismus erfahren. Ich konnte keinen einzigen Tag lang vergessen, dass ich Jüdin war, obwohl ich weder die hebräische Sprache noch religiöse Bräuche kannte. Als ich 2022 dann nach Israel geflüchtet bin, traf ich auf den Straßen viel Vertrautes aus meiner Kindheit, das in Russland fast verschwunden war, weil es dort nur noch wenige Juden gab. Statt sieben Millionen Juden vor der Februarrevolution 1917 waren es gut 100 Jahre später nicht mehr als 200.000.

Nach dem Beginn des Krieges gegen die Ukraine trafen sich viele Menschen, darunten zahlreiche Bekannte und Freunde, die vor ­Putins Regime geflüchtet waren, in Israel wieder. Israel gab uns ein Gefühl der Sicherheit. Nach meiner Ankunft mieteten wir uns ein Haus 20 Kilometer von Tel Aviv entfernt, in einer 1933 von Einwanderern aus Deutschland gegründeten Siedlung. Meine Schwester lachte, als sie sah, wie ich die Tür unseres Hauses abschloss: „Wir schließen hier nicht ab“, sagte sie, „wir sind hier in absoluter Sicherheit.“ Diese Einstellung änderte sich auf die brutalstmögliche Art und Weise am 7. Oktober 2023, als Hunderte Hamas-­Mörder Israel überfielen und mehr als 1.200 Menschen binnen kürzester Zeit töteten. Ich war an diesem Tag in Deutschland, und als die ersten Nachrichten von dem Hamas-Angriff gesendet wurden, konnte ich es nicht glauben. Es war unvorstellbar! Als bekannt wurde, was geschah, wie viele Menschen brutal ermordet, vergewaltigt und verbrannt wurden, schien es mir, als würde mir der Boden unter den Füßen wegbrechen.

Unser Schicksal ist typisch für russische Juden

Irina Scherbakowa, Menschenrechtsaktivistin

LEKTIONEN DER VERGANGENHEIT

Vor diesem Hintergrund löste die Welle des Antisemitismus, die in Deutschland nach der Hamas-Attacke folgte, bei mir keine unmittelbare Angst aus, sehr wohl aber ein Gefühl der tiefen Beunruhigung und Enttäuschung. Meine Arbeit und mein Leben in Deutschland haben mir gezeigt, dass die deutsche Gesellschaft seit 1945 eine Menge Arbeit und Reflexion gegenüber der eigenen Geschichte geleistet hat. Ich bin inzwischen nur besorgt, dass die Lektionen der Vergangenheit irgendwann wieder vergessen sein könnten.

Die Sorge über diese Entwicklungen wird durch das, was ich in Russland sehe, noch verstärkt: die Freundschaft ­Putins mit der Hamas, die Unterstützung für den Iran, das Aufflammen des Antisemitismus. Dazu die anhaltende Aggression gegen die Ukraine – ­Putin will diesen Krieg unbedingt gewinnen oder zumindest so lange führen, wie er kann. Für meine Freunde, die in Russland geblieben sind, wird es immer schwieriger, dort zu leben; und wir, die das Land verlassen haben, können kaum auf eine baldige Rückkehr hoffen.

Dennoch glaube ich, auch wenn es im Moment illusorisch klingen mag, dass auch ­Putins Regime sein Ende findet. Aber erst muss er den Krieg gegen die Ukraine verlieren. Ich hoffe sehr darauf.

Die Autorin: Irina Scherbakowa, Menschenrechtsaktivistin

Die in Russland geborene Germanistin und Historikerin war 1989 Mitgründerin der Moskauer Menschenrechtsorganisation Memorial, die in ihrer Heimat mittlerweile verboten ist. Im Jahr 2022 wurde Memorial der Friedensnobelpreis verliehen.