»Die Sonne geht nur unter, wenn sie erlischt«

Ob als Postkarte oder auf Instagram – Sonnenuntergänge gehören zu den meistgemalten und -fotografierten Motiven überhaupt. Wie befasst sich die Bildende Kunst mit dem Thema? Ein Gespräch mit Kuratorin Annett Reckert über Vergänglichkeit und Kitsch.

Pantone in Farben eines Sonnenuntergangs
Garantiert kitschfrei: der dekonstruierte Sonnenuntergang von Viktoria Binschtok. „#sunset“ (2019) hängt in der Kunsthalle Bremen.

Strand und Meer – was darf da nicht fehlen? Ein Sonnenuntergang, klar. Wie sich der Blick auf die Sonne mit der Zeit verändert hat, schildert die Dokumentation „Ode an die Sonne. Eine Kunstgeschichte.“. Auch bei der Ausstellung „Sunset. Ein Hoch auf die sinkende Sonne“ in der Kunsthalle Bremen erahnt man die Nachmittagsnervosität, die dem allesentscheidenden Moment meist vorausgeht. Was es damit auf sich hat und welche Rolle das Motiv in der Kunst spielt, beschreibt Kuratorin ­Annett ­Reckert im Interview.

ARTE MagazinWoran denken Sie bei Sonnenuntergängen: Kunst oder Kitsch?

Annett Reckert Für mich geht es auf keinen Fall nur um Kitsch! Im Gegenteil. In der Ausstellung hängt an einer Wand dieses Werk von William ­Turner, „Strand von Calais bei Niedrigwasser“ – es ist im kunstgeschichtlichen Kanon abgesegnet und keiner redet von Kitsch. Daneben hängt ein Alpenglühen von ­Julius Köhnholz, ein unbekannter Bremer Maler. Viele würden hier sagen: Das ist der Inbegriff von Kitsch. Ich habe die Werke bewusst und ohne Wertung nebeneinander ausgestellt. Man kann sie frisch und im Kontext betrachten – ganz ohne die Festlegung auf Kunst oder Kitsch. 

ARTE Magazin Wie kam es, dass der sinkenden Sonne in der Kunst so viel Bedeutung beigemessen wurde?

Annett Reckert In der Romantik, zum Beginn des 19. Jahrhunderts, wendeten Künstler ihren Blick auf das Farbspektakel im Himmel. Die Meteorologie wurde zur Wissenschaft und bald trat die Fotografie ihren Siegeszug an. Sie wurde schnell zum Massenphänomen. Es folgten Postkarten, Poster, Kalender, später Fototapeten. Das alles hat klischeehafte Darstellungen verfestigt. Das Motiv wurde immer mehr kommerzialisiert, vor allem auch in der Pop Art der 1960er Jahre. Ich erinnere mich an die Werbung meiner Jugend: ­Bacardi, ­Bounty, Club Méditerranée – alles wurde mit dem Sonnenuntergang und den immer gleichen Bildern verbunden. 

ARTE Magazin Nun legt auch Ihre Ausstellung den Fokus auf die Abendsonne. 

Annett Reckert Der Sonnenuntergang ist eben – anders als der Sonnenaufgang – eine Art Rückspiegel des Tages: eine Phase der Erinnerung und Reflexion. Seit Menschengedenken ist er Anlass für Rituale: Wurde früher getanzt oder getrommelt, trinken wir heute einen Sundowner oder gehen zum Candle-Light-Dinner. Die Zeit, in der wir leben, ist zudem von Bildern des Untergangs geprägt – ob Pandemie oder Krieg. Das Zeitgefühl schwebt in der Ausstellung mit. Bei aller Untergangsthematik spielen aber auch Schönheit, Ruhe, Nachdenklichkeit und Genuss eine Rolle – Menschen sind berührt, wenn sie vor einem Bild von ­Caspar ­David ­Friedrich oder Claude Monet stehen. 

 

Sonnenuntergang am Strand
Foto: Jorge Tapia/Pexels

Ode an die Sonne. Eine Kunstgeschichte.

Kulturdoku

Sonntag, 5.3. — 16.40 Uhr
bis 2.6. in der Mediathek

ARTE Magazin Wie gehen Künstler und Künstlerinnen heute mit dem Motiv um?  

Annett ReckertHeute gibt es sehr viele Ansätze. Manche gehen mit Humor, manche sehr analytisch vor. Da gibt es die Himmelsabstraktion von  Viktoria Binschtok: ein Sunset aus Farbfächern, wie man sie aus dem Baumarkt kennt. Die Berliner Künstlerin Johanna ­Jaeger fragt in ihrer Serie „Desktop Horizon“: Welche Farbe hat der Sonnenuntergang? ­Fiete ­Stolte ist von Berlin gen Osten geflogen und hat in Polaroids acht Sonnenuntergänge in sieben Tagen eingefangen – er hinterfragt unser Zeitdiktat. Bei Dieter Roth wird eine verweste Salamischeibe zum Sonnenuntergang: Roth war von Stoffwechselprozessen fasziniert. Alles Leben hängt von der Sonne ab. Verkürzt könnte man sagen: Ohne Sonne keine Wurst. 

ARTE Magazin Kann man eine solche Ausstellung noch kuratieren, ohne auch den Klimawandel zu thematisieren? 

Annett Reckert Nein, den beziehen wir ganz klar mit ein. Etwa mit dem Video der Kanadierin ­Susan ­Schuppli: Darin sagen Inuit, die Sonne gehe nicht mehr am selben Ort unter wie früher. Sie stellt die Beweismittel infrage, denen wir glauben, wenn wir naturwissenschaftliche Aussagen treffen. Auch bei ­Monets düsterem Bild „Das Parlament, Sonnenuntergang“ von 1904 können wir davon ausgehen, dass es ihm nicht um die Faszination am Londoner Nebel ging, sondern dass die Sonne gegen den Smog kämpft. Eine simple Gleichung: Je dreckiger der Himmel, desto schöner der Sonnenuntergang, denn je mehr Partikel in der Luft hängen, desto mehr brechen sich die Lichtstrahlen. Es ist eine trügerische Schönheit.

ARTE Magazin Häufig wird der Sonnenuntergang als Symbol für den letzten Akt, für das Endliche gebraucht. Zu Recht?

Annett Reckert Auf der Erde geht die Sonne ja nie wirklich unter – das Ganze ist ein höchst relatives Ereignis, das unsere Fantasie beflügelt. Steigt man beim Blick auf den rot glühenden Horizont auf einen Fels, sieht man, dass die Sonne gar nicht weg ist. Und doch sind wir immer wieder tief bewegt – vielleicht, weil das Verschwinden der Sonne an unser eigenes Vergehen erinnert, ganz archaisch. Mit den apokalyptischen Werken von Marikke Heinz-Hoek und Josef Scharl erinnert unsere Ausstellung daran, dass der Sonnenuntergang tatsächlich nur ein einziges Mal stattfinden wird: im Weltall, wenn die Sonne in Jahrmilliarden Jahren komplett erlischt. 

Zur Person
Annett Reckert, Kuratorin

Die 1967 in Kassel geborene Kunsthistorikerin ist Kuratorin für moderne und zeitgenössische Kunst vom 19. bis 21. Jahrhundert an der Kunsthalle Bremen. Bis zum 2. April läuft dort ihre Ausstellung „Sunset. Ein Hoch auf die sinkende Sonne“.