»Das Leben wird wertvoller«

Der russische Angriff auf die Ukraine jährt sich im Februar zum zweiten Mal. Die ukrainische Bevölkerung ist erschöpft, doch die Angst vor dem Aggressor lässt nach. Der Schriftsteller Juri Andruchowytsch weiß warum. 

ukrainische Flagge Schminke Auge
Foto: Paul Zinken/picture alliance/dpa

Zwei Jahre Krieg und kein Ende in Sicht: Sowohl der ukrainische Präsident ­Wolodymyr ­Selenskyj als auch Kremlchef ­Wladimir ­Putin stimmten in ihren Neujahrsansprachen ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger auf einen lang anhaltenden Konflikt ein. Im Februar zeigt ARTE ­zahlreiche Dokumentarfilme, die die Kultur und Identität der Ukraine abbilden und durch eine tiefgehende Auseinandersetzung dazu beitragen sollen, die komplexe Situation besser zu verstehen. 

Schwerpunkt

Ukraine
– Zwei Jahre Krieg

ab 6.2., 20.15 Uhr

Das, was selbst westliche Geheimdienste lange für undenkbar hielten – ein vollumfänglicher Angriffskrieg durch Russland – kam für den ukrainischen Schriftsteller ­Juri ­Andruchowytsch alles andere als unerwartet. Der 63-Jährige gilt als einer der einflussreichsten zeitgenössischen Autoren Europas, seine Romane wie „Perversion“ (1999) oder „Radio Nacht“ (2020) wurden in mehr als 20 Sprachen übersetzt. ­Andruchowytsch begann seine Karriere als Lyriker, ab 1982 veröffentlichte er seine ersten Gedichte. Im westukrainischen Iwano-Frankiwsk geboren, prägte ihn seine sowjetische Vergangenheit. Auf satirisch-­kontroverse Art erzählt Juri ­Andruchowytsch etwa von den Emanzipationsbestrebungen ehemaliger sowjetischer Staaten, besonders der Ukraine, sowie von ihren Widersachern. 

Lange vor Beginn der Invasion in seiner Heimat warnte der Autor bereits eindringlich vor Russland als Aggressor. Deshalb wird Juri ­Andruchowytsch als eine Art Sisyphos der europäischen Verständigung bezeichnet. Früh suchte er die Aufmerksamkeit des Westens und forderte, ­Putins imperialistische Bestrebungen ernst zu nehmen. Aus heutiger Sicht wirken seine Warnungen geradezu hellseherisch. Insbesondere seine Essays, die 2023 bei Suhrkamp in einem Sammelband mit dem Titel „Der Preis unserer Freiheit“ erschienen sind, vermitteln eindrücklich, wie es zur Eskalation in der Ukraine kommen konnte. Statt mit einem klassischen Nachwort endet der Band mit einem Interview: Juri ­Andruchowytsch spricht mit Osteuropa-Lektorin Katharina Raabe über Lektüren, die gegen die Kriegsschrecken helfen, und darüber, wie eine Gesellschaft mit einer alltäglichen Terrorgefahr zurechtkommt. 

 

russische Bomben in der Ukraine
Im Ausnahmezustand: Einschläge russischer Raketen – wie hier auf einem Feld in Bohodarowe in der Ostukraine (Foto) – sind für die Ukrainer seit zwei Jahren alltägliche Realität. Foto: YASUYOSHI CHIBA/AFP/Getty

KATHARINA RAABE Herr Andruchowytsch, wie fühlt sich ein europäischer Sisyphos mitten im Krieg?

JURI ANDRUCHOWYTSCHUm ehrlich zu sein: wie jemand, der spürt, dass der Augenblick gekommen ist, sich von sich selbst zu verabschieden. Vor allem habe ich die große Hoffnung, dass die Verdammnis des Sisyphos bald zu Ende geht und sein Schicksal sich erschöpft hat. Diesmal, so hoffe ich, wird es gelingen, den Stein bergauf zu wälzen, bis auf den Gipfel, und er wird nicht mehr herunterrutschen. Mythos kaputt.

KATHARINA RAABE Wie überlebt die ukrainische Gesellschaft den von Russland ausgehenden Terror?

JURI ANDRUCHOWYTSCHIch würde sagen, mit großer Standhaftigkeit. Diese Solidität habe ich von uns nicht erwartet. Die Leute bleiben solidarisch, unverbrüchlich, hart, sie sind auf den ukrainischen Sieg gerichtet, denken an eine bessere Zukunft und retten sich gegenseitig. Sie retten ihre Häuser, Ortschaften, Tiere. Übrigens stelle ich so etwas wie eine Revolution im Verhältnis zu den Tieren fest: Ihr Leben zählt bei uns nicht weniger als das menschliche Leben. Das ist, glaube ich, eine Form des Widerstands gegen den Terror: Man erfährt unendlich viel mehr über den Preis des einzelnen Lebens. Das Leben wird wertvoller, als es jemals war. Das Gegenteil dessen, was der Philosoph Vakhtang Kebuladze die „russische Todeswelt“ nennt.

KATHARINA RAABE Wie verkraftet die Gesellschaft das Unglück, die Trauer um die Getöteten, die unablässige Angst? Das eigene physische Schrumpfen?

JURI ANDRUCHOWYTSCHDas alles ist natürlich vorhanden, unsere Verluste sind ja immens, und bisher sieht es nicht danach aus, dass die Fähigkeiten des Aggressors, uns noch größere, noch tiefere und schmerzhaftere Wunden zuzufügen, erschöpft wären. Trotzdem dominiert das Negative bei uns nicht. Angst gibt es kaum noch, dafür – mehr als alles andere – Humor. Ein Beispiel: Heute in Kyjiw, auf der Arsenal-Buchmesse 2023, sprach ich mit einer Frau aus Krywyj Rih. Vor einer Woche traf eine russische Rakete nicht das Haus, sondern den Hof ihres Nachbarn. Dort blieb ein gähnendes Loch zurück, fünf bis sieben Meter tief und wirklich sehr groß. Der Nachbar steht am Rande, schaut in das Loch, blickt, mit ­Nietzsche zu sprechen, in den Abgrund, und plötzlich sagt er: „Welch ein Glück, gerade sitze ich über den Plänen für ein Schwimmbad im Hof!“

KATHARINA RAABE Gibt es Strategien, die man lernen kann, um
mit dem Tod, der Verletzung der Freunde und Verwandten, mit der Verwüstung des eigenen Landes umzugehen?

JURI ANDRUCHOWYTSCHJa, da bin ich mir sicher. Ich würde nicht sagen, dass es Strategien sind, es liegt wohl in der menschlichen Natur. Sie reagiert so, wie sie kann – mit Liebe und Lebenslust, mit geschärfter Aufmerksamkeit für die Nächsten und einer neu entdeckten Motivation zu arbeiten. Dazu kommt der größte Lebenstraum: den Aggressor zu bestrafen, ihn zu besiegen. Dieses Ziel zu erreichen, ist sehr kompliziert, aber diese Perspektive verleiht uns Kräfte, um uns am Leben zu halten und das Leben zu schätzen. 

 

Anastasia Shestopal stand am Bahnsteig im ukrainischen Kramatorsk,
Anastasia Shestopal stand am Bahnsteig im ukrainischen Kramatorsk, als eine russische Rakete einschlug. Die junge Frau gehört zu den vielen Menschen in der Ukraine, die der Krieg äußerlich und innerlich gezeichnet hat. Als Host der Sendung "Tracks East: Die Ukraine nach zwei Jahren Krieg" berichtet sie von der Kunst, sich neu zu erfinden, wenn man vor den Trümmern seines Lebens steht. Foto: Elvira Lutsenko/ZDF

KATHARINA RAABE Hat sich Ihr Blick auf das eigene Werk verändert?

JURI ANDRUCHOWYTSCHMein Werk ist recht vielfältig. Manches erscheint heute akuter, relevanter, anderes weniger oder gar nicht mehr aktuell. Trotzdem habe ich das Gefühl, dass die heutige ukrainische Leserschaft viel empfindsamer geworden ist – auch meine Texte werden neu gelesen, tiefer und genauer. Natürlich ist „Moscoviada“ noch immer die Nummer eins unter meinen Romanen. Die Neuausgabe von 2023 verkauft sich sehr gut. Ich habe mehr Lesungen denn je, sie sind immer voll, und das Publikum steht Schlange, um sich die Bücher signieren zu lassen. Ich konnte mich nie über mangelnde Aufmerksamkeit meiner Leserinnen und Leser beklagen, aber gerade ist es irgendwie besonders spürbar und rührend.

KATHARINA RAABE Hat sich das Schreiben überhaupt verändert?

JURI ANDRUCHOWYTSCHIm Prinzip nicht – ich habe mich immer schon darum bemüht, sprachlich und literarisch so gut zu sein, wie ich kann. So halte ich es auch weiterhin. Der Krieg enthebt uns nicht der Verpflichtung, komplex, schön, stilistisch reich und ästhetisch vielschichtig zu schreiben. Gleichzeitig gibt es bestimmte Veränderungen, andere inhaltliche Akzente, Färbungen. Ich weiß noch nicht, ob das Buch, an dem ich jetzt arbeite, am Ende ein Roman sein wird oder eine Sammlung von Geschichten. Den ersten Teil – das erste Kapitel? die erste Erzählung? – hatte ich drei Tage vor der Invasion fertig. Es sollte ein Roman werden über eine späte Kindheit in der totalitären Welt der frühen 1970er Jahre. Die Atmosphäre ist eher grotesk beziehungsweise surreal – Schule, Familie und als ständige Begleitmusik die Repressalien. Inzwischen liegen sechs Teile in einer vorläufigen Fassung vor. Es dominiert das Motiv des „ewigen Krieges“. Alle unsere sogenannten friedlichen Zeiten, behauptet der Erzähler, sind in Wirklichkeit Zwischenkriegszeiten.

KATHARINA RAABE Gibt es Lektüren, die in der jetzigen Lage hilfreich sind?

JURI ANDRUCHOWYTSCHIn meinem Fall: Ja, auch wenn sie einem seltsam vorkommen können. Ich greife am liebsten zu Sachen, die ich früher gelesen habe – zum Beispiel „Radetzky-Marsch“, „Moby Dick“ oder Vladimir Nabokovs „Bastardzeichen“. Ich finde, letzteres Buch behandelt das Thema Totalitarismus etwa viel präziser als George Orwells „1984“. Ich lese das alles eher in Ausschnitten bei sich bietender Gelegenheit. Die häufigsten Lektüren  sind politische und militärische Experten-Analysen. Dieser Krieg ist unglaublich reichhaltig kommentiert, all das bildet schon eine eigene literarische Gattung. Mit solchen Texten kann man viel schneller einschlafen, und dank ihrer klingt das Sirenengeheul des nächtlichen Luftalarms nicht ganz so apokalyptisch.

Tracks East: Die Ukraine nach zwei Jahren Krieg

Magazin

Dienstag, 6.2.
— 00.50 Uhr
bis 4.2.25 in der
Mediathek