Die Seele streicheln

Berührungen haben einen elementaren Einfluss auf die Biochemie des Menschen. Verantwortlich ist eine komplexe Interaktion von Nervenzellen und Gehirn.

Foto: Ilenia Tesoro

Ein Faustschlag ins Gesicht schmerzt und lässt die Lippe bluten. Starkes Zwicken hinterlässt blaue Flecken. Kaum weniger folgenschwer sind jedoch gut gemeinte Berührungen: Wenn die Finger eines Menschen sanft über den Arm eines anderen gleiten, wenn sich nackte Körper aneinander schmiegen, sich Nasen, Wangen, ganze Gesichtshälften reiben – dann erzeugt unser Organismus Gefühle, die zu den schönsten unserer Existenz gehören. Körperliche Nähe fördert so den Zusammenhalt, lindert Schmerz und Stress und ist, dank seiner erregenden und stimulierenden Eigenschaften, die Grundlage unserer Sexualität. „Berührungsreize verändern die Biochemie des Gehirns auf dramatische und positive Art und Weise“, sagt ­Martin ­Grunwald vom Haptik-­Forschungslabor der Universität Leipzig in der ARTE-­Dokumentation „Die Macht der sanften Berührung“

Die Macht der sanften Berührung

Wissenschaftsdoku

Mittwoch, 3.3. – 21.40 Uhr
bis 30.5. in der Mediathek

Elektrische Impulse für das Gehirn
Bis in die 1990er Jahre war die Forschung zu Berührungsreizen noch lückenhaft. Eine Wende brachte die Entdeckung einer besonderen Art von Hautsystem. So weiß man heute: Jede Berührung aktiviert Millionen Rezeptoren und sendet innerhalb von Millisekunden elektrische Impulse, sogenannte Mikroströme, über ein dichtes Netz an Nervenfasern in verschiedene Regionen des Gehirns. Spezialisierte Nerven lösen dann die Ausschüttung von Botenstoffen aus, also von Hormonen und Neurotransmittern, die für wachstumsfördernde Prozesse und andere positive Effekte sorgen. „Insofern ist die Folge eines Berührungsreizes immer eine ganzkörperliche Reaktion“, sagt ­Grunwald.

Ein weiteres fehlendes Puzzlestück fanden Forscher Ende der 2000er, als sie ein zweites schwer zu lokalisierendes Nervensystem identifizierten – bestehend aus sogenannten C-taktilen­ Zellen, auch Streichelfasern genannt. Deren Signale benötigen ein bis zwei Sekunden, bis sie ins Gehirn gelangen, und richten sich speziell an Areale, die für Empfindungen, die Selbstwahrnehmung und das Reflexionsvermögen verantwortlich sind. C-­taktile Zellen kommunizieren dadurch, ob eine Berührung angenehm ist – oder unangenehm, etwa wenn einen der falsche Mensch streichelt. „Ich denke, das ist es auch, was soziale Gruppen zusammenhält. Die Berührung reguliert über Belohnung den sozialen Kontakt von Gruppen“, sagt Francis McGlone, Neurowissenschaftler an der ­Liverpool John ­Moores ­University, in der ARTE-­Doku.

Dank der Nervensysteme kann das Gehirn auch unterscheiden, ob sich ein Mensch selbst berührt – oder berührt wird. Da Letzteres zu völlig anderen Prozessen im Körper führt, liegt die Frage nahe: Lassen sich Haut-zu-Haut-­Berührungen künstlich imitieren? Erste technische Lösungen für Distanzkontakt via Internet gibt es bereits. Eine „weiche, sensible Hautschnittstelle“ nennt John ­Rogers, Physiker und Chemiker der Northwestern University in Evanston, eine von ihm mitentwickelte künstliche Haut. Sie wird wie ein Pflaster auf den Empfänger aufgeklebt und kommuniziert kabellos. Kleine Elektroelemente wandeln Computersignale vom Touchscreen des Absenders in Druck- und Vibrations­impulse um. Virtuelles Streicheln in Echtzeit? Nicht ganz. Denn sanfte Berührungen kann die Kunsthaut noch nicht simulieren.

Auf Berührungen folgen ganzkörperliche Reaktionen

Martin Grunwald, Psychologe und Hirnforscher