Der Angriff am 7. Oktober 2023 traf Israel unvorbereitet: Von Gaza aus überfielen Hamas-Terroristen Siedlungen und ein Festival, töteten mehr als 1.200 Menschen und verschleppten 240 Geiseln. Die Antwort war ein Militäreinsatz, für den Ministerpräsident Benjamin Netanjahu drei Ziele formulierte: die Hamas vernichten, die Geiseln befreien und dafür sorgen, dass von Gaza nie wieder eine Bedrohung für Israel ausgeht. Ein Gespräch über Folgen, Wege aus der Eskalation und Europas Rolle mit dem Nahost-Experten Daniel Gerlach vom Thinktank Candid Foundation.
ARTE Magazin Herr Gerlach, wie blicken Sie nach fast einem Jahr auf den Krieg zwischen Israel und der Hamas?
Daniel Gerlach Um das Ausmaß zu begreifen, muss man einen besonders in Europa ausgeblendeten Aspekt sehen: Israels Führung ging es auch darum, ein Exempel zu statuieren. Nicht nur die Hamas zu zerstören, sondern Gaza und seine Gesellschaft – womöglich auf Generationen. Dieses Ziel hat in einem nach dem 7. Oktober von Rache und Vergeltung erfüllten Diskurs Rückhalt in Teilen der israelischen Bevölkerung.
ARTE Magazin Israel werden Kriegsverbrechen bis hin zu Völkermord vorgeworfen. Ist das für Sie nachvollziehbar?
Daniel Gerlach Internationale Gerichte, etwa der Chefankläger des Weltstrafgerichts, hegen den Verdacht und haben Zitate von Spitzenpolitikern gesammelt, die zu entsprechenden Straftaten aufrufen. Als Historiker hat mich eine Rede Benjamin Netanjahus zu Kriegsbeginn bewegt. Er nimmt Bezug auf Passagen im Alten Testament, in denen es um Gottes Befehl an König Saul geht, das Israel feindlich gesinnte, heidnische Volk von Amalek auszurotten. Eine solche historisch-biblische Referenz bringt jemand wie Netanjahu, der aus einem gebildeten Elternhaus kommt, nicht einfach so.
ARTE Magazin Erkennen Sie eine Perspektive jenseits des Militärischen?
Daniel Gerlach Israel ist ohne politischen Plan in diesen Krieg gegangen und hat seither versäumt, ein Ende vorzubereiten und mit Alliierten strategische Absprachen zu treffen. Das einzig Mögliche ist eine internationale Sicherheitsverantwortung für Gaza unter arabischer Führung. Mit Investitionen der ganzen Weltgemeinschaft: aus China, den arabischen Staaten, Europa und den USA. Man muss Gazas palästinensische Familien einbinden und perspektivisch die Autonomiebehörde. Wichtig ist, dass Israel sich verantwortungsvoll an Versorgung und Wiederaufbau beteiligt.
ARTE Magazin Ist das mit den heutigen Verantwortlichen vorstellbar?
Daniel Gerlach Man kann nicht für alles Netanjahu und seine rechtsextremen Koalitionäre verantwortlich machen. Wir sehen in Israel, wie anderswo in der Welt, ein totales Versagen liberaler Kräfte, die im Krieg keinen mäßigenden Einfluss ausüben. Heute sagen viele liberale Israelis: Wir haben diesen Krieg verloren. Nicht weil wir die Hamas nicht schlagen könnten, das geschieht. Aber weil wir gerade dabei sind, unsere Werte und damit unser Land zu verlieren.
ARTE Magazin Sollte die EU versuchen, stärker Einfluss zu nehmen?
Daniel Gerlach Es gibt keine einheitliche europäische Position, daher wird der EU kaum der große Durchbruch gelingen. Sprechen Sie mit Vertretern europäischer Staaten, stellen Sie fest, dass viele von der einseitigen deutschen Haltung befremdet sind. Aber es vollzieht sich ein Wandel. In einer polarisierten Welt sind die USA der Anwalt Israels, China macht sich zum Anwalt der Palästinenser und treibt die Versöhnung zwischen deren Organisationen voran. Die Europäer fragen sich: Was bleibt als unsere Rolle?
ARTE Magazin Und wo sehen Sie die?
Daniel Gerlach Die Europäer hätten viel Macht, wenn sie bereit wären, sie zu nutzen. Sie begreifen nicht ganz, wie wichtig Europa nicht nur für arabische Mittelmeeranrainer, sondern auch für Israel ist – wirtschaftlich, politisch, kulturell. Die USA mögen wichtigster Waffenlieferant und Verbündeter sein, aber letztlich ist Israel Europas Nachbar und nicht der von Russland, China oder den USA.
ARTE Magazin Gibt es insgesamt Bewegung in der Palästinafrage?
Daniel Gerlach Es gab lange nicht diese Aufmerksamkeit, auch wenn die Welt gespalten ist. Das jetzige System bietet weder Israel noch den Palästinensern Sicherheit – und keine würdevolle Existenz. Zur Trennung der Sphären sowie zum Aufbau zweier souveräner Staaten sehe ich keine plausible Alternative.
ARTE Magazin Also doch eine Chance für einen Neubeginn?
Daniel Gerlach Wir sollten nicht vergessen, dass das Ende des Schreckens noch nicht erreicht ist. Aufgrund der Verdrängungs- und Annexionspolitik, aber auch der Radikalisierung angesichts von 40.000 toten Palästinensern in Gaza, kann in Jerusalem und dem Westjordanland ein großer Knall bevorstehen. Etwas wie den 7. Oktober könnte Israel wieder erleben, nur könnte dieses Mal niemand sagen, es sei überraschend.
Zur Person:
Daniel Gerlach, Nahost-Experte
Der Islamwissenschaftler und Publizist ist Direktor der Denkfabrik Candid Foundation in Berlin sowie Chefredakteur der Zeitschrift Zenith. Beide hat er mitgegründet.