Die fantastischen Vier des Pop

Im Zweifel für die Melodie: Kaum eine europäische Band hat die Popkultur so geprägt wie Abba. Mit Songs wie „Waterloo“ und „Dancing Queen“ haben die Schweden neue Maßstäbe in Sachen Produktion gesetzt. Heute begeistern sie als 3D-Avatare immer noch ein Millionen­publikum. Was fasziniert so am Phänomen Abba?

Porträt der Band ABBA
Foto: Baillie Walsh / AP / picture alliance

Der Sieg kam als Niederlage verpackt: Keine drei Minuten sollte der Angriff dauern, als Abba am 6. April 1974 beim 19. Grand Prix Eurovision de la Chanson in Brighton mit „Waterloo“ antraten. Ein Lied, das ­Napoleons letzte Schlacht gleichsetzt mit dem bröckelnden Widerstand gegen die Übermacht der Liebe. „Wie könnte ich mich dagegen wehren / Es fühlt sich an, als würde ich gewinnen, wenn ich verliere“, heißt es in dem englischsprachigen Song. Das schien dem Publikum sofort einzuleuchten – denn es gab sich bereitwillig geschlagen und wählte „Waterloo“ auf den ersten Platz.

50 Jahre ist das nun her und 25 Jahre sind vergangen, seit das Abba-­Musical „Mamma Mia!“ ebenfalls an einem 6. April in London Premiere feierte. Das Doppeljubiläum nahm der Regisseur Chris Hunt zum Anlass, in seiner Dokumentation „­Abba ­Silber, ­Abba Gold“, die ARTE im August zeigt, den sagenhaften Erfolg des schwedischen Quartetts näher zu beleuchten. Mehr als 150 Millionen Platten haben Abba verkauft und mehr als 70 Millionen Menschen in 440 Städten schauten sich das Musical „Mamma Mia!“ bis heute an; die Filmadaption von 2008 und ihre Fortsetzung „­Mamma ­Mia! Here We Go Again“ von 2018 konnten an den Kinokassen gut eine Milliarde US-Dollar umsetzen; die „­Abba ­Voyage“ genannte Konzertreihe mit dreidimensionalen Hologramm-Avataren, die seit Mai 2022 in London zu sehen ist, begrüßte nach nicht einmal einem Jahr bereits den millionsten Gast.

Seit ihrer Trennung 1982 sind Abba größer und größer geworden, was bei der Bandgründung zehn Jahre zuvor allein wegen des Standortnachteils Schweden kaum abzusehen war. Bevor die vier Musiker zusammenfanden, hatten sie jeweils eigene Karrieren verfolgt. ­Benny ­Andersson spielte ab Mitte der 1960er Jahre Gitarre und Keyboards – etwa bei den Hep Stars, den skandinavischen Beatles –, während Björn ­Ulvaeus Mitglied einer Folkband namens Hootenanny Singers war. ­Agnetha ­Fältskog hatte wiederum vor ihrer Zeit mit Abba vier Soloalben veröffentlicht und mit 18 Jahren einen Nummer-eins-Hit in Schweden, den sie selbst geschrieben hatte. Musikalisch orientierte sie sich an Musical-Songs, italienischen Balladen und deutschem Schlager, weswegen sie sich später wunderbar mit Anni-Frid ­Lyngstad ergänzte, die zwar seit ihren Teenager-Tagen ebenfalls Schlager-­Singles veröffentlichte, aber eigentlich in Richtung Jazz strebte. Da die schwedische Musikszene damals recht überschaubar war, mussten sie einander früher oder später über den Weg laufen. Dass ­Fältskog und ­Ulvaeus sowie ­Lyngstad und ­Andersson sich dann auch noch ineinander verliebten und sie sozusagen als doppeltes Doppel antreten konnten, schuf die ideale Basis für die Band.

ABBA Silver, ABBA Gold

Musikdoku

Mittwoch, 7.8.
— 22.15 Uhr
bis
5.10. in der
Mediathek

Zunächst versuchten sie ihr Glück als „Björn & ­Benny, ­Agnetha & ­Anni-Frid“ – ein Name, der so umständlich war, dass sie bei ihrem ersten Versuch, beim Grand Prix aufzutreten, nicht einmal den Vorentscheid meisterten. Nachdem die Namensfrage gelöst war, lauteten die Überlegungen für den zweiten Anlauf wie folgt: Um als schwedische Band eine Überlebenschance zu haben, braucht es den internationalen Erfolg; um internationalen Erfolg zu erlangen, muss englisch gesungen werden; um überhaupt ein internationales Publikum zu erreichen, braucht es den Grand Prix als Bühne und vorzugsweise den Sieg; um sich dabei gegen die Konkurrenz durchzusetzen, reicht aber nicht allein ein guter Song, sondern es sind bestimmte Merkmale notwendig, die den Zuschauern selbst dann in Erinnerung bleiben, wenn sie an dem Abend noch 16 andere Lieder zu hören bekommen. Also bauten Abba ­Napoleon in den Text ein, nannten ihren Beitrag „Waterloo“, zogen sich haarsträubende Kostüme an, verkleideten ihren Kapellmeister als ­Bonaparte und ließen auch musikalisch nichts anbrennen. Der Song ist eine Meisterleistung an musikalischer Effizienz und war der Grundstein für schwedischen Pop.

Die Lieder klingen fröhlich, aber sie sind es nicht

Björn Ulvaeus, Abba-Musiker und Produzent
Die Abba-Mitglieder in schwarz-weiß küssen sich gegenseitig
Unsterblich: Mit Küssen gratulieren die Abba-Mitglieder einander 1974 zum Grand-Prix-Gewinn . Foto: empics / dpa / picture alliance

Ein Wesensmerkmal des Schwedenpops ist, dass er nach einer gewissen Ortlosigkeit strebt. Statt lokale Besonderheiten und musikalische Traditionen genießen Effektivität und Anschlussfähigkeit auf breiter Ebene oberste Priorität. Abba kam dabei zugute, dass sie auf all die Einflüsse ihrer vorherigen Karrieren zurückgreifen konnten und einen Sound produzierten, der Künstlern in den musikalischen Epizentren in den USA und England so nie in den Sinn gekommen wäre. Sie blieben auch von den jeweiligen Trends weitgehend unberührt.

In keinem Titel kommt das so zur Geltung wie in „Dancing Queen“, ein Disco-Song, der eigentlich zu langsam für einen Disco-Song ist, der den Augenblick feiert und dabei getragen ist von Melancholie und Trost. Von Anfang an stapeln ­Andersson und ­Ulvaeus Instrumente und Melodien übereinander, Gitarren, Streicher, Piano und Keyboards, die wie Chöre klingen. Auch wenn man meint, den Song eigentlich in- und auswendig zu kennen, möge man den Versuch unternehmen, ihn sich konzentriert anzuhören – und man wird staunen, was im Arrangement alles passiert. ­Lyngstad soll nach eigenen Angaben geweint haben, als sie die Instrumentalversion zum ersten Mal hörte: „aus purer Freude, dass ich den Song singen würde“, sagte sie.

Nach zehn Jahren und acht Alben hatte es sich für Abba allerdings ausgetanzt. Die beiden Ehen waren zerbrochen und alle Beteiligten hinreichend erschöpft. Der vorerst letzte offizielle Auftritt als intakte Band fand am 6. November 1982 statt. Damals nahmen Abba auf der Frühstückscouch der „Late, Late Breakfast Show“ der BBC Platz, und ihr Unbehagen war mit Händen zu greifen. Eigentlich wollten sie über ihr zehnjähriges Bestehen reden, doch dann mussten sie zu Trennungsgerüchten Stellung beziehen. ­Ulvaeus erklärte, dass die Band sich erst auflösen würde, wenn man keine Freude mehr habe, worauf ­Andersson erwiderte, dass das schon längst der Fall sei. ­Fältskog gab zu bedenken, dass sie mehr als ein sexy Hintern sei, was für den Moderator Anlass für allerhand unangemessene Scherze war. Als ­Lyngstad bemerkte, dass Ulvaeus und ­Andersson viele gute Songs geschrieben hätten, warf ihr Ex-Mann ein, dass er das zum ersten Mal von ihr hören würde. Dann sagte ­Andersson, dass „The Winner Takes It All“ sein Lieblingssong von Abba sei, aber nur, weil die Macher der Show es so von ihm verlangt hätten. Anschließend sangen sie „Thank You for the Music“. Vielen Dank!

Hologramm-Avatare auf der Bühne
Hologramm-Avatare in der Londoner Abba Arena. Foto: Raph PH / Flickr

Abba-mania – Von Bono bis zu den Backstreet Boys

Für den Rest der 1980er wollte niemand etwas von Abba wissen, doch mit den 1990ern begann das Comeback. Eingeleitet wurde es 1992 vom britischen Synthiepop-Duo -Erasure und ihrer Nr.-1-EP „Abba-esque“. Noch im selben Jahr holten dann U2 bei einem Konzert in Stockholm -Ulvaeus und -Andersson auf die Bühne und spielten „-Dancing -Queen“ – hinterher verbeugte sich Bono vor ihnen und sagte: „Wir sind eurer nicht würdig!“ Die australische Filmkomödie „-Muriels Hochzeit“ baute 1994 seine gesamte Geschichte um ein paar Abba-Songs herum. Anschließend nahmen Abba die Sache selbst in die Hand und brachten „Mamma Mia!“ auf den Weg.

Ihr Einfluss ist kaum zu überschätzen. Vordergründig gilt das für Schwedenpop-Künstler wie -Roxette, Ace of Base und -Robyn, doch zur wahren Entfaltung kam Abbas Bedeutung erst in den Stockholmer Cheiron Studios, wo eine Generation von Produzenten ausgebildet wurde, die bis heute fast alle bekannte Stars mit Hits versorgen. Was mit den -Backstreet -Boys und -Britney -Spears begann, reicht inzwischen bis Ed -Sheeran und -Coldplay. Das alte Abba–Prinzip, dass die Produktion ein zentraler Bestandteil des Songwritings ist, kommt in dieser Schule voll zum Tragen: niemals langweilen, das Ohr stets mit neuen Eindrücken versorgen, lieber mehr Melodie als zu wenig. Doch bei aller Perfektion schien bei Abba selbst in den fröhlichen Songs stets eine gewisse Traurigkeit durch. „Sie haben diese nordische Melancholie“, hat -Ulvaeus einmal gesagt. „Sie klingen fröhlich, aber sie sind es nicht.“