Lange Zeit löste das Wort „Abendbrot“ bei mir einen freudschen Versprecher aus. Denn nachdem ich als Kind bei einer Reise nach Deutschland diese Mahlzeit entdeckt hatte, taufte mein Gehirn sie wohl unbewusst zu „Armenbrot“ um. Tatsächlich glich sie aus Sicht einer Pariserin eher einem spontanen Hauspicknick als einem richtigen Abendessen. Letzteres war bei uns ein aus Hauptgericht, Beilagen und Dessert komponiertes Menü mit Fleisch- und Kartoffelgratins, Gemüsesuppen, Salaten, abgerundet durch ausgewählte Käsesorten und Joghurts. Anfangs fand ich es sogar amüsant, in Deutschland um 18 Uhr schlicht Brot mit Aufschnitt zu mir zu nehmen. Bis ich verstand, dass dieses Essen rein gar nichts Improvisiertes hatte, sondern sich allabendlich wiederholte. So brannte sich das Wort „Armenbrot“ in meinen Geist ein und überlebte dort selbst nach meinem Umzug auf die andere Rheinseite. Als ich dann eines Abends Freunde zu mir einlud, servierte ich ihnen einige Scheiben Brot mit Wurst, Käse und Kirschtomaten und rief freudig wie stolz: „Ich habe euch ein Armenbrot zubereitet!“ Einige Sekunden herrschte perplexes Schweigen. Dann brachen alle in Gelächter aus.
Auch wenn sich hierzulande die Essgewohnheiten allmählich wandeln – viele Deutsche essen mittlerweile abends warm oder später – halten sich weiterhin zwei wesentliche Überzeugungen. Erstens: Eine warme Mahlzeit am Tag reicht. Und zweitens: Das frühe Abendessen gegen 18 Uhr ist, spätestens sobald Kinder da sind, unerlässlich, um die Kleinen rechtzeitig ins Bett zu verfrachten. Zu einer Uhrzeit also, die in meiner Heimat die Aperitif-Zeit vor dem richtigen Diner um 20 Uhr und für gewöhnlich die zweite warme Mahlzeit am Tage ist. Das Abendbrot hat in Deutschland jedenfalls auch heute noch zahlreiche Fans. In Zeiten, in denen vielen eine Konstante fehlt, erscheint diese unprätentiöse Mahlzeit als eine ideale Antwort auf den hektischen Familienalltag des 21. Jahrhunderts. Besonders Mütter, allen voran ich selbst, schätzen den damit verbundenen geringen Aufwand mit dem schönen Nebeneffekt: mehr Zeit für anderes. Heutzutage vergesse ich mit Freude meine von warmen Menüs vernebelten französischen Sinne und taufe das Abendbrot ganz bewusst in „Freizeitbrot“ um!
Die Autorin lebt seit 2003 in Berlin und arbeitet als freie Journalistin.