Briefkolumne

Neues Jahr, neues Glück! Unsere Brieffreunde begrüßen 2023 und verabschieden gleichzeitig ihre Kolumne – um Platz für neue Abenteuer zu schaffen. 

Illustration: Elisabeth Moch

 

Cher Dirk,

schon wieder ein neues Jahr! Vor mehr als zwei Jahren haben wir unseren Briefwechsel aufgenommen – die Zeit vergeht immer schneller, wie mir scheint. Bei einem unserer ersten Male erzählte ich Dir von meiner Verlegenheit, als ich den Freunden meines Freundes in Hamburg meine Wange statt der Hand reichte, die ihrerseits von dieser französischen Sitte, sich zu küssen, verwirrt waren. Und Du warst besorgt bei dem Gedanken, uns in einem Café zu treffen, weil Du Angst hattest, die „Etikette der Ritterlichkeit“ zu verletzen. Kurzum, wir waren eingeschüchtert oder sogar verklemmt. Du hast mich zu Deinem Geburtstag eingeladen, nachdem Du mich in das Protokoll Deiner Kindheit eingeführt hast – ein Gast pro Jahr –, und ich habe den Tipp gegeben, dass ein außereheliches Abenteuer die Ehe retten kann. Allein der Gedanke daran ließ Dich erröten. Diesmal möchte ich aus einem persönlichen Blickwinkel über die verrinnende Zeit sprechen. Als ich in Rente ging (mit über 65 Jahren, wie in Deutschland, oder?), hatte ich das Gefühl, das Leben noch vor mir zu haben. „La vie devant moi“ hieß deshalb der Titel meines Buches mit Reflexionen über die Geschenke, Schäden oder Überraschungen des Alters. Seitdem habe ich mich herumgetrieben und das Schreiben des nächsten Buches – eine ­Garten- und Liebes­geschichte, die mir sehr am Herzen liegt – auf morgen verschoben. Und jetzt fühle ich, dass es an der Zeit ist, mich wieder an die Arbeit zu machen, und zwar schnell und gründlich, denn auch Ideen werden älter (wie die Pflanzen oder die Liebe). Aber Schluss mit den Späßchen, mein lieber Dirk, es ist also an der Zeit, „mich vor dir zu verneigen“ – um diesen französischen Ausdruck für einen leichten Abschied zu verwenden – indem ich Dir danke und Dir das Beste wünsche!

PS: Um an einem dieser Tage, hier oder da, endlich dieses Glas zu trinken? Keine Sorge, es ist mir egal, wer zuerst durch die Tür geht.

Karambolage Magazin

sonntags, 18.55 Uhr

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Liebe Colombe,

im Laufe unserer Brieffreundschaft habe ich mir immer wieder vor-genommen, mich der deutschen Abschiedsformel „tschüss“ zu widmen. So selbstverständlich wir sie in unserem Alltag verwenden, so seltsam klingt sie doch, wenn man einmal genauer darüber nachdenkt: sechs Konsonanten auf engstem Raum, nur unterbrochen von einem Vokal, der auch noch ein Umlaut ist. Ein Zischen letztlich, das von einer ziemlich unfreundlichen Schlange stammen könnte, die einem aus dem Dickicht zu verstehen gibt, dass es höchste Zeit sei, sich zu verziehen – tschüss! Es ist dem Klang nach ein wohl typisch deutsches Wort, deutlich härter jedenfalls, als es eigentlich gemeint ist. Nun habe ich im wunderbar regelmäßigen Austausch mit Dir, der über 30 Briefe umfasst, bislang nie den Anlass verspürt, das Wort „tschüss“ in den Mund zu nehmen. Aber der Tag ist nun gekommen: Dies ist mein letzter Brief an Dich, liebe ­Colombe, und ich muss Dir Tschüss sagen. Ich möchte Dir diese Abschiedsformel jedoch nicht zurufen, ohne ihr vorher den allzu harten Klang genommen zu haben – und nicht ohne mit Dir geteilt zu haben, dass sich in diesem einen Wort unsere deutsch-französische Freundschaft widerspiegelt. Also: „Tschüss“ und auch seine regionalen Varianten wie etwa „tüüs“, „tschüssing“ oder „tschö“ sind aus „atschüs“ entstanden, das vom wallonischen „adjuus“ abstammt – einer Dialektform Eures liebenswert weichen Grußes „adieu“. Die Hugenotten brachten es Ende des 17. Jahrhunderts nach Norddeutschland mit, von wo es sich alsbald ausbreitete. Wenn wir „Tschüss“ sagen, sagen wir eigentlich: „Adieu“. So sprechen wir tatsächlich Französisch, selbst ein spröder Niedersachse, wie ich einer bin. Das finde ich schön – und besonders heute, da wir voneinander Abschied nehmen müssen, auch ein bisschen tröstlich. Ich bin Dir dankbar, dass Du mir in all Deinen Briefen Dein Land, seine Kultur und Menschen so nah gebracht hast. Auf die Freundschaft – unsere und die unserer Länder! Auf Europa. Auf den Frieden. 

Tschüss! Adieu!