Bewegt emanzipiert

Was als militärisches Ausdauertraining begann, entwickelte sich zu einer wichtigen Säule der Emanzipation: Mit Aerobic änderte sich das Leitbild der Frau.

Frau macht Aerobic im gelben Outfit
Foto: Paul Popper/Popperfoto/Getty Images

Kochen, putzen, Kinder hüten – bis in die 1970er Jahre waren Frauen in Europa und den USA vor allem in Haushaltsaufgaben und die Kindererziehung eingespannt. Sport und Fitness galten als Männersache. Erst in den 1980er Jahren brachte ein Fitnesstrend die Kehrtwende: Aerobic. Welchen Einfluss der mit Gymnastikanzügen und hohen Stulpen verbundene Sport auf die Gesellschaft hatte und wie sich dadurch die Wahrnehmung von Frauen und Fitness grundlegend veränderte, zeigt die ARTE-Dokumentation „Burn, Baby, Burn!“ im August.

Lange Zeit war Frauensport verpönt und galt bis zum Ende des 19. Jahrhunderts sogar als gesundheitsschädigend. In medizinischen Ratgebern wurde vor starken Erschütterungen gewarnt, sie könnten die weiblichen Fortpflanzungsorgane funktionsunfähig machen. „Der Kern von Weiblichkeit war und ist bis heute Mütterlichkeit und Fürsorge; das wird als naturgegeben angesehen“, erklärt die Soziologin ­Paula ­Villa ­Braslavsky im Gespräch mit dem ARTE Magazin. „Selbstverständlich haben aber auch früher viele Frauen körperlich schwer gearbeitet.“

Burn, Baby, Burn! Wie Aerobic die Welt zum Schwitzen brachte

Gesellschaftdoku

Mittwoch, 21.8.
— 23.05 Uhr
bis 19.9. in der
Mediathek

Nach dem „Golden Age of Marriage“ – dem sogenannten Goldenen Zeitalter der Eheschließung, wie Familiensoziologen die 1950er und 1960er Jahre nennen – begann das vorherrschende Leitbild zu bröckeln. Frauen strebten nach mehr Selbstbestimmung, Geschlechterrollen wurden hinterfragt. „Frauen nahmen zunehmend auch das Recht für sich in Anspruch, ihre eigene Körperlichkeit zu gestalten“, sagt ­die Soziologin.

Dass ausgerechnet Aerobic diese Emanzipation beschleunigte, war nicht unbedingt zu erwarten. Entwickelt wurde das Fitnesstraining ursprünglich vom US-amerikanischen Militärarzt und Sportmediziner ­Kenneth H. ­Cooper. Das Ziel: die Stärkung von Lunge und Herz. ­Cooper, der seine Trainingsmethode bereits seit den 1960er Jahren bei seinen Patienten einsetzte, hielt seine Forschungsergebnisse 1968 im Buch „Aerobics“ fest und begründete damit eher unfreiwillig einen neuen Trendsport. In den 1970er Jahren stieß ­Coopers Trainingsprogramm in den USA auch außerhalb der Kasernen auf großes Interesse: Immer mehr Trainerinnen bauten die ausdauernden Sportübungen in ihre Gymnastik ein.

Den Durchbruch brachte 1982 schließlich eine Workout-­Videoreihe der Hollywood-Schauspielerin ­Jane ­Fonda mit dem Titel „Aerobic“: Der Ausdauersport aus Tanz und Gymnastik avancierte zum Massenphänomen, das Bewegung in die Wohnzimmer brachte. Doch Aerobic war weitaus mehr als ein bloßer Fitnesstrend: „Für Frauen war es eine Art Selbst­ermächtigung“, betont ­Villa ­Braslavsky. „Aerobic verkörperte die neuen Leitbilder von Weiblichkeit: fit sein, sexy sein, Spaß haben, sich in der Öffentlichkeit zeigen.“ Auch Frauen durften fortan ehrgeizig und erfolgreich sein; gesellschaftlich wurde das sogar erwartet. Filme wie „Die Waffen der Frauen“ (1988) glorifizierten das neue Leitbild, die moderne Karrierefrau war geboren.

Aus rein sportlicher Sicht begeistert die Mischung aus Muskeltraining und Spaß, für die Aerobic steht, bis heute: Jedes Jahr öffnen zahlreiche neue Fitnessstudios, insgesamt gibt es allein in Deutschland mehr als 9.000 mit etwa 11,3 Millionen Trainierenden. Influencerinnen und Influencer erreichen mit ihren Workout- und Ernährungstipps täglich Millionen von Menschen. Fitnessprodukte machen enorme Umsätze – bundesweit waren es zuletzt mehr als fünf Milliarden Euro im Jahr.

Doch der Fitnesshype hat zwei Seiten. „Disziplin, Ehrgeiz und Leistung sind extrem positiv konnotiert“, sagt ­Villa Braslavsky.Zugleich litten besonders Frauen inzwischen häufig an Zwängen und Essstörungen, weil sie auf Sport ausgerichteten Schönheitsidealen hinterherjagten. Ständig sei die Rede von Abnehmtipps und Zauberformeln für die perfekte Strandfigur. „Diese Ästhetiken sind ganz klar hetero-patriarchal“, meint die Soziologin. „Die Anerkennung von Männern ist angeblich immer noch das, was Frauen den meisten Wert bringt“, denn Selbstbestimmtheit sei nie radikal autonom. „Sie geschieht immer im Kontext von gesellschaftlichen Normen.“