Am 10. Juli 2003 blickten Musliminnen und Muslime aus aller Welt auf Granada. Um 12 Uhr Ortszeit, pünktlich zum Mittagsgebet, ertönten die Worte „Allah-u Akbar“ (Gott ist am größten) über den Dächern von Albaicín, dem ältesten Viertel der südspanischen Stadt – zum ersten Mal seit mehr als 500 Jahren. Staatsschefs und Botschafter aller muslimischen Länder waren angereist; der panarabische Sender Al Jazeera übertrug das Ereignis live im Fernsehen.
Anlass war die Einweihung der Mezquita Mayor, des ersten islamischen Gotteshauses in Granada seit Abschluss der christlichen Reconquista im Jahr 1492. Der Standort der neu erbauten Großen Moschee könnte symbolträchtiger nicht sein: Sie steht auf einer Anhöhe neben der Kirche San Nicolas, die nach der Verdrängung der Muslime aus dem arabischen Stadtteil Albaicín auf den Grundmauern einer abgerissenen Moschee gebaut wurde. Gegenüber, auf dem Sabikah-Hügel vor dem Pa-norama der Sierra Nevada, thront die Alhambra, deren Geschichte ARTE am Thementag „Wunderbauten für die Ewigkeit“ erzählt. Der ehemalige Sultanspalast, der seit 1984 zum Weltkulturerbe gehört, steht wie kein anderes Bauwerk für die Epoche Al-Andalus, die 711 mit der Eroberung der Iberischen Halbinsel durch den berberischen Feldherrn Tāriq ibn Ziyād (670–720) begann und 800 Jahre später mit der gewaltsamen Vertreibung der Muslime durch katholische Machthaber ihr Ende fand.
In Spanien gilt Al-Andalus, wie die nordafrikanischen Eroberer die Iberische Halbinsel nannten, seit jeher als „Kampfplatz der Geschichtswissenschaft“ (FAZ). Für die einen steht die Epoche als Paradebeispiel für das fruchtbare Zusammenleben von Christen, Juden und Muslimen – unter islamischer Herrschaft. Der Historiker Américo Castro (1885–1972) prägte den Begriff „Convivencia“ (Koexistenz) für das mittelalterliche Spanien, in dem Kunst und Wissenschaft florierten, während im Rest von Europa Analphabetismus und kriegerische Kreuzzugstimmung überwogen. Die muslimischen Herrscher brachten nicht nur Aprikosen, Arithmetik und die arabischen Ziffern über das Meer, sondern legten nach Castros Ansicht auch den Grundstein für die moderne spanische Identität. Kritiker der oft als „Goldenes Zeitalter“ stilisierten Epoche werten die Muslime hingegen als Fremde, die es zwangsläufig mit Gewalt von der Iberischen Halbinsel zurückzudrängen galt – „vor allem für Christus“, wie der Historiker Claudio Sánchez-Albornoz (1893–1984) im 20. Jahrhundert formulierte. Bis heute wird der 2. Januar in christlich-konservativen Kreisen mit militärischem Pomp, dem Hissen der Fahne und mit der spanischen Nationalhymne gefeiert: An diesem Tag im Jahr 1492 übergab Muhammad XII. (1460–1533) das von den Nasriden beherrschte Emirat Granada – die letzte Bastion der Muslime in Europa – an Ferdinand II. von Aragón (1452–1516) und Isabella I. von Kastilien (1451–1504).
Die Rückkehr des Islam nach Andalusien
Vor dem Hintergrund dieses andauernden „Ost-West-Duells der Kulturen“ (FAZ) avancierte die Errichtung einer Großen Moschee im Herzen von Granada zum Politikum. Vom Erwerb des Grundstücks durch libysches Kapital im Jahr 1982 bis zum Baubeginn vergingen fast 20 Jahre, in denen die Islamische Gemeinde Spaniens nach eigenen Angaben „etliche Hürden“ überwinden musste. „Willkommen waren wir hier nicht“, betonte der Sprecher Abdul Haqq am Tag der Eröffnungsfeier. Dank Spenden aus den Vereinigten Arbabischen Emiraten, Marokko, Malaysia und der Türkei konnte das vier Millionen Euro teure Gebäude schließlich gebaut werden. Während die rund 14.000 Musliminnen und Muslime der rund 250.000 Einwohner zählenden Stadt sich über einen Gebetsraum, eine Bibliothek und ein Zentrum für Islamstudien freuten, schürte das Projekt rassistische und islamfeindliche Hetze in der Nachbarschaft: „Mauren raus“ und andere Schmierereien erschienen auf Wänden unweit der Moschee. Die spanische Tageszeitung El Mundo schrieb angesichts der Spannungen sogar von einem „heiligen Krieg“ und warnte durchaus reißerisch vor einer „muslimischen Rückeroberung Granadas“.
Für den Historiker Stef Keris, der sich mit dem europäischen Erbe von Al-Andalus beschäftigt, geht es bei dem Streit um die Große Moschee in Granada neben der Religion vor allem um Nationalismus und Identitätspolitik: „Die Verdrängung der Muslime nach der Reconquista war essenziell für die Identitätsbildung der Spanischen Nation“, betont Keris im Gespräch mit dem ARTE Magazin. Die spanischen Könige strebten nach einer christlichen Herrschaft, deren erstes Opfer die vielbeschworene „Convivenca“ der drei Religionen war: Mit der Unterzeichnung des Alhambra-Edikts, übrigens das erste antijüdische staatliche Dokument Europas, verfügten sie im März 1492 die Vertreibung aller Jüdinnen und Juden. Im August desselben Jahres segelte Christoph Kolumbus (1451–1506) im Auftrag der Spanischen Krone Richtung Westen – und erreichte Amerika. Das Narrativ von der „Entdeckung der Neuen Welt“ und die damit einhergehende Kolonisierung weiter Teile Mittel- und Südamerikas prägten das nationale Selbstbewusstsein bis in die Gegenwart, sagt Keris: „Viele Spanier haben hierüber ihre moderne Identität begründet – und haben den Islam und die Muslime von einst nur als Besatzer gesehen.“ Die Folgen seien Jahrhunderte später noch spürbar: Bis 1978, also drei Jahre nach dem Ende der Franco-Diktatur, wurde keine andere Religion als der Katholizismus akzeptiert. 1992, genau 500 Jahre nach der Reconquista, verabschiedete die sozialdemokratische Regierung unter Regierungschef Felipe González dann ein Gesetz, das den Islam offiziell als Religionsgemeinschaft anerkennt. Damit bekamen Musliminnen und Muslime das Recht zugesprochen, Religionsunterricht in den Schulen abzuhalten, muslimische Feiertage zu begehen – und Moscheen zu bauen. Mittlerweile gibt es landesweit 1.200 Moscheen für die rund zwei Millionen Menschen muslimischen Glaubens.
Während die spanische Regierung mit der gesetzlichen Gleichstellung des Islam eine Vorreiterrolle in Europa einnahm, hat sich die gesellschaftliche Debatte vor allem im Süden des Landes zugespitzt. „In Andalusien haben die Menschen Angst vor der Nostalgie einiger Araber und möglichen Versuchen, den Einfluss zurückzugewinnen, den sie im mittelalterlichen Spanien hatten“, analysierte der Soziologe Alejandro Navas jüngst in einem Interview mit dem Focus. Jeder dritte Nichtmuslim sei überzeugt, dass es in seiner Umgebung bereits zu viele Muslime gibt und dass diese die öffentliche Ordnung und die nationale Sicherheit bedrohen. Sieben von zehn Spanier würden glauben, dass der Islam nicht kompatibel sei mit den Werten der spanischen Gesellschaft.
Für Stef Keris sind die Vorbehalte auch ein Produkt der eurozentrischen Sicht auf die eigene Vergangenheit: Der kulturelle Reichtum Spaniens, von architektonischen Meisterwerken wie der Alhambra über die Bewässerungsanlagen im Albaicín bis hin zu etlichen arabischen Ortsnamen, stamme aus der Ära Al-Andalus. Sogar den Kompass, mit dem Kolumbus sich 1492 auf den Weg ins Ungewisse machte, hätten die Muslime von China nach Spanien gebracht, fügt der Historiker hinzu. Zwar wolle er diesen Teil der Geschichte nicht glorifizieren, jedoch stehe fest: „Ohne den Einfluss des Islam wäre Europa heute nicht, was es ist.“