Sammlerin der Seelen

Die New Yorker Malerin Alice Neel wollte mit ihren ungeschönten Porträts die Gesellschaft verändern. Über den wundersamen Aufstieg einer talentierten Außenseiterin zur Jahrhundertkünstlerin.

Porträt von Alice Neel vor ihren Gemälden
Foto: Lona media / NDR

Schonungslos, nackt, ungeschminkt – die New Yorker Künstlerin Alice Neel fing die Menschen ihrer Zeit in eindringlichen Porträts ein. Jahrzehntelang wollte kaum jemand ihre Kunst kaufen – heute zählt die Malerin zum Kanon der Kunstgeschichte. Das Metropolitan Museum of Art in New York widmete ihr unlängst eine Retrospektive. Ihre Werke erweisen sich dabei als politische Statements mit hochaktuellen Bezügen, denn sie entblößen die Abgründe sozialer Gewalt. Wer war die Künstlerin, die ARTE im Oktober porträtiert? Und wie erklärt sich ihre späte Anerkennung in der Kunstwelt?

Die Malerin Alice Neel: Gesichter Amerikas

Kunstdoku

Sonntag, 9.10. — 16.10 Uhr

bis 6.1.23 in der Mediathek

Gemälde
Retrospektive: Vom 5. Oktober bis 16. Januar 2023 sind die Werke der New Yorker Porträtistin ­Alice ­Neel in der Ausstellung "An Engaged Eye" im Centre Pompidou in Paris zu sehen. Darunter: „Rita und Hubert“, 1954. Foto: Malcolm Varon / The Estate of Alice Neel and David Zwirner

Alice Hartley Neel wurde 1900 in Merion Square bei Philadelphia geboren. Während sie an der Philadelphia School of Design for Women studierte, lernte sie den kubanischen Künstler ­Carlos ­Enríquez Gómez kennen. Er überzeugte sie, nach Havanna zu gehen, wo ihre Tochter ­Santillara zur Welt kam. Als sie 1927 zurück in die USA zogen, starb ­Santillara an Diphterie. Ein Jahr später kam Tochter ­Isabetta zur Welt, worauf das nächste Drama folgte: ­Enríquez nahm das Kind mit zu seinen Eltern nach Kuba, Neel sah es nie wieder. Den Schmerz versuchte sie in ihren Bildern zu verarbeiten. Als die Große Depression im Jahr 1929 Millionen Menschen in die Arbeitslosigkeit stürzte, fing Neel die besorgten Gesichter ebenfalls in ihren Bildern ein. 1931 beging Neel zwei Selbstmordversuche und kam in ein privates Sanatorium, wo sie ermutigt wurde, weiter zu malen.

Sie zog nach Greenwich Village, ins Zentrum der New Yorker Boheme, wo sie Künstler und Schriftsteller malte. Sie sah sich selbst als „Sammlerin von Seelen“ und sagte über sich: „Wenn ich nicht Künstlerin geworden wäre, hätte ich Psychiaterin sein können.“ In New York zog sie als alleinerziehende Mutter zwei Söhne groß: Richard, der nach einer kurzen Liaison mit dem Sänger ­José ­Santiago ­Negrón geboren wurde, und ­Hartley, der während einer Beziehung mit dem politisch aktiven Filmemacher Sam ­Brody zur Welt kam. Neel nahm an mehreren Gruppenausstellungen teil, doch ihre Bilder fanden kaum Abnehmer. Bis 1943 erhielt sie Förderungen der Arbeitsbeschaffungsbehörde Works Progress Administration und bezog bis Mitte der 1950er Jahre Sozialhilfe.

Mit ihrem Umzug ins bezahlbare Spanish Harlem entdeckte Neel, die stark mit den Ideologien der kommunistischen Partei sympathisierte, ihre Leidenschaft für das puerto-­ricanisch geprägte Viertel. Sie porträtierte in der Folge Immigranten, Bedürftige und linke Aktivisten. Ihre Modelle lud sie oft in ihr Wohnzimmer ein, das ihr 20 Jahre lang als Atelier diente. 1960 erschienen Neels Gemälde erstmals in der Zeitschrift Art News – ein Durchbruch, der für wachsendes Interesse der Kunstszene sorgte. Die Porträtistin zog in eine größere Wohnung an die Upper West Side in Manhattan, besuchte Vernissagen, reiste mit ihren Söhnen nach Europa und nahm fortan regelmäßig Aufträge vom Time Magazin an.

Gemälde
„­Andy ­Warhol“, 1970. Foto: Whitney Museum of American Art / License by Scala / The Estate of Alice Neel

New Yorks Gesichter: Kunst der Demokratie 

Neel verweigerte sich mit ihren Porträts, von denen sie Hunderte malte, konsequent dem Mainstream. Während abstrakte Kunst in der Nachkriegszeit en vogue war, widmete sich die New Yorkerin dem figurativen Realismus. „Ihre Malerei entsprach nicht dem Zeitgeist. Sie wollte Menschen malen und ging bis zuletzt keinen Kompromiss ein“, sagt Neels Sohn ­Hartley über die Künstlerin. Neel interessierte sich für alle Menschen gleichermaßen, ungeachtet ihrer Herkunft, Hautfarbe, sexuellen oder politischen Orientierung: Sie malte Einwanderer, Straßenkinder, Bettler und Demonstranten ebenso wie Freunde und Verwandte. Berühmtheiten ordnete sie in ihre Porträts von Unterprivilegierten ein: ­Andy ­Warhol etwa zeigt sie 1970 mit nacktem Oberkörper und Narben seiner Schusswunden, kurz nachdem das Attentat auf ihn verübt worden war. In einer Zeit der Rassentrennung würdigte Neel People of Color auf großen Formaten, sie schreckte auch nicht davor zurück, misshandelte oder schwangere Frauen darzustellen, die dem Schönheitsideal widersprachen. Auf ihrer Leinwand wurden alle gleich behandelt, sie brach radikal mit Stereotypen und Klassenunterschieden. „In der Politik und im Leben war ich immer für die Verlierer, die Underdogs“, so Neel.

Erst im Zuge der Frauenrechtsbewegung wurde sie als feministische Künstlerin entdeckt: Mit 74 Jahren erhielt sie ihre erste Einzelausstellung im Whitney Museum of American Art, 1979 überreichte ihr der damalige US-Präsident ­Jimmy ­Carter den Preis des Women’s Caucus for Art. Nachdem Neel an Krebs erkrankt war, zog sie sich immer mehr zu ihrem Sohn ­Richard in die Wälder von Vermont zurück. 1984 verstarb sie schließlich in ihrer New Yorker Wohnung.

Kunst Upstate New York

4-tlg. Dokureihe

ab Sonntag, 2.10. — 12.40 Uhr

90 Tage in der Mediathek