Fragt man als Therapeut Paare vor dem ersten Termin, worum es in ihrem Liebeskonflikt geht, gibt es manchmal gleich seitenweise Antworten per Mail: Von „schleichenden Prozessen“ ist da die Rede, vom „Abhandengekommensein des Miteinanders“. Vom „Gefühl, alles falsch zu machen und an allem schuld zu sein“ und davon, sich „emotional und körperlich verloren“ zu haben. Oder auch von einer „Negativspirale aus Vorwurf, Ablehnung, Streit, zerstörtem Vertrauen und Angst“. Mal ganz abgesehen vom Sexleben, das eh in Scherben liegt.
Oft fehlen aber auch die Worte, weil es eben keine Liebeskunde gibt, mit der die Menschen auf die Mechanismen und Verhakungen im Paarleben vorbereitet werden. Was ja hieße, dass sich Liebe lernen ließe. Dass es Techniken gäbe, mit denen, einmal erlernt, jede und jeder eine bereichernde Beziehung entwickeln und in ihr wachsen könnte.
„Liebe ist das Kind der Freiheit“, besagt ein altfranzösisches Sprichwort. Sie ist eines der stärksten und magischsten Gefühle, das wir Menschen kennen. Eigentlich gibt sie uns Hoffnung und Lust auf das Leben. Sie lässt unsere Herzen ohne Verstand rasen, als Trieb, der unser Gehirn und unseren Körper nachhaltig beeinflusst, und sie ist ein ganz grundlegendes Bedürfnis, ohne Entkommen, so wie Hunger, Durst oder Schlaf. In Literatur, Musik und Film ist die Liebe allgegenwärtig. Und auch die Forschung beschäftigt sich mit ihr immer intensiver, zu sehen in der Wissenschaftsdoku „Wunder Liebe“, die ARTE am 31. August in einem Schwerpunkt zeigt.
Dabei hatte es Liebe noch nie so schwer wie heutzutage: Weil wir sie immer stärker exponieren. Durch die Kommerzialisierung unseres Intimlebens auf Plattformen wie Tinder oder OK Cupid zum Beispiel, die Gelegenheitssexualität zur Norm machen. Was dazu führt, dass Gefühle eher Warencharakter bekommen. Ein Investment halt, das sich lohnen muss. So jedenfalls erzählt es die Soziologin Eva Illouz in ihrem Buch „Warum Liebe endet“. Auch der überall grassierende Selbstoptimierungswahn, der uns pausenlos suchen lässt, setzt der Liebe zu – ohne Gewissheit, dass das Gefundene irgendwann auch mal ausreicht und passt, weil wir im ständigen Streben nach dem nächsten Gefühls-Kick das Ideal der Liebe immer weiter überhöhen. Weswegen auch die opulente Inszenierung von Hochzeiten heute mehr denn je einem Traumbild nacheifert, fern jeder Realität.
Eine lebenslang lodernde Glut
Nur ist Liebe eben oft nicht so, wie wir sie uns wünschen, ersehnen oder erhoffen. Sie ist derart vielschichtig, dass schon die Philosophen in der Antike zwischen drei Arten von Liebe unterschieden haben: Eros – die begehrende Liebe. Agape – die fürsorgliche Liebe. Philia – die freundschaftliche Liebe. Wobei, wie sich bei Paartherapien zeigt, heute offenbar vor allem diejenige Liebe zählt, die in der Romantik ihren Ursprung hat: die mit den tiefgründigen Gefühlen; eine lebenslang lodernde Glut. Dabei bedeutet zu lieben doch eigentlich erst mal nur, selbst in Vorlage zu gehen, ohne sich zu vergewissern, was der andere zurückgibt. Am bedingungslosesten lieben Eltern ihre Kleinkinder. Diese Liebe so anzunehmen, wie sie ist, fällt Babys leicht. Weil sie als biologisches Programm Geborgenheit und Belohnung bedeutet. Wachsen die Kinder heran und entwickeln ihren eigenen Charakter, keimt schon mal Enttäuschung bei Müttern und Vätern auf. Sie beginnen, ihre Liebe an Bedingungen zu knüpfen. Meist unbewusst, aber für den Nachwuchs schmerzhaft spürbar. Oft sogar mit Nachwirkungen: Weil die Liebe, die man geben kann, erst mal so ist, wie man sie zu Hause gelernt hat, von den eigenen Eltern. Im Verständnis. In der Fähigkeit, Unterschiede auszuhalten. In der Selbst-Empathie.
Klar, Liebe ist auch eine Frage der individuellen Entwicklung. Eine Konstruktion von persönlichen Erfahrungen und Erwartungen. Was für den einen innige Liebe ist, kann sich für andere einengend und bedrängend anfühlen. Was für einen selbst Freiraum bedeutet, kann dem Partner oder der Partnerin Angst machen. Zu lieben bedeutet deswegen, kompromissbereit zu sein. Wenn ich verstehe, was dem Partner oder der Partnerin wichtig ist, kann ich mich auf seine Liebesart einlassen. Und hoffen, dass meine Art, zu lieben, anziehend ist. Weil es nun mal keine allgemeingültige Deutung von Liebe gibt.
Auf eines hingegen können sich die meisten einigen: Trennung ist Teil der Liebe. Weil jede Beziehung mit dem Tod endet, aber oft auch schon vorher – im Alltag. Um eine Trennung zu verhindern, suchen einige Frauen und Männer in Not therapeutische Hilfe und fragen: „So geht’s nicht weiter! Aber wie dann?“ Das Problem ist nur, dass viele etwas verwechseln, wenn sie vom Ermatten der Liebe sprechen oder gar von Trennung. Weil sie sich in ihrem Gefühlsmix aus Betäubtsein, Lustlosigkeit und Wut eigentlich von einem Zustand trennen wollen, nicht vom Partner.
Aus Leichtigkeit wird feindliche Tonnenlast
Was verständlich ist, weil aus der früheren Leichtigkeit der liebevollen und freundlichen Zweisamkeit eine feindliche Tonnenlast geworden ist. Also bloß weg damit, damit man endlich wieder unbeschwert und glücklich sein kann. Genau dieses Missverständnis, diese Verwechslung, führt aber dazu, dass sich Paare oft schlicht zu früh trennen. „75 Prozent unserer Zeit reden wir aneinander vorbei. Wir sind genervt, müde oder haben unsere Gefühlsregung nicht unter Kontrolle“, sagt Carrie Cole, Forschungsleiterin des Love Lab in Seattle in der ARTE-Dokumentation „Wunder Liebe“. Dabei gibt es Lösungen für solche Probleme.
Beim Wiedererlernen von Liebe und Verbundenheit sind es anfangs eher kleine Schritte, die den Paaren viel Mühe machen. Weil es um das Verlassen der Komfortzone geht, um das Erkunden von Verhalten und Konfliktmustern und darum, das Trennende sichtbar zu machen. Jede Nachfrage nach dem, was zwischen den Partnern steht, entlastet das Paar, weil es ja vorher schon alles Mögliche getan hat, um die Liebe wiederzufinden. Weil es ausgepowert ist und verzweifelt. Weil es Verständnis sucht, bei sich und anderen. Und weil in dieser existenziellen Krise jeder oft erst mal lernen muss, für sich zu sorgen.
Das Ende eines Machtkampfes
Der Versuch eines Neuanfangs ist meist auch das Ende eines Machtkampfes – und damit auch der Abschied von Bedürfnissen, Wünschen und Sehnsüchten. Wieder Auseinandersetzung und Arbeit also, aber eine riesige Chance, der Liebe gemeinsam eine neue Richtung zu geben. Ohne Vorwürfe oder Trennung, mit Reifeprozess. Weil es nämlich tatsächlich ein Leben nach dem „dead point“ gibt. Weil wir Zustände verändern können, aber keine Menschen
Was die Alternative zum Arbeiten an einer Beziehung ist? Wohl nicht Tinder & Co.! Denn neue Beziehungen sind, wie Forschungen belegen, oft nur Wiederholungen der alten. So ähneln neue Partnerinnen und Partner laut einer Studie der University of Illinois in Chicago auffallend häufig dem oder der wichtigsten Ex. „Eine gewohnte Rollenverteilung bestätigt unser Selbstkonzept“, wird als Grund vermutet. Hieße aber auch: Mit neuen Liebesgefährten landen wir automatisch am selben Punkt. Bei Missverständnissen, die unerträglich sind. Beim Drama ohne Ende, bei kleinsten gemeinsamen Nennern.
Zum Hintergrund dieser Automatik: Paarpsychologen teilen Beziehungen in vier Phasen ein. Am Anfang das Verliebtsein, der hormonelle Ausnahmezustand also, ein einziger Liebesrausch. Dann das Kennenlernen von Freunden, Verwandten, ersten Macken und Gewohnheiten, weil das Gehirn wieder mitdenkt. Aus Verliebtheit wird Liebe, die zwar nicht mehr so aufwühlend ist, dafür aber gesünder. Schließlich die Umerziehungsphase, in der wir den Partner ändern wollen; auch wenn es uns kaum gelingt. Und schlussendlich der Versuch der Festigung und Sicherung dessen, was gut ist und bleiben sollte; auch Konsolidierung genannt. Die vier Phasen sind Resultat der hormonellen Kreisläufe in unserem Körper, von denen Beate Ditzen, Psychologin am Uni-Klinikum Heidelberg, regelrecht schwärmt: „Die Idee, dass man ein so komplexes Gefüge wie Bindungsgefühle und Beziehungen auch von der psychobiologischen Seite untersuchen kann, begeistert und fasziniert mich.“
Was nichts daran ändert, dass in Deutschland mehr als jede dritte Ehe wieder geschieden wird – im Schnitt nach 15 Jahren. Schade eigentlich, weil es ja oft nicht mal um Glück geht, sondern um Zufriedenheit. Was aber voraussetzt, dass wir uns unserer Bedürfnisse bewusst werden und dann aktiv dafür sorgen, dass sie auch befriedigt werden. Erst dann nämlich sind wir bereit, die Liebe zu leben, die wir haben.
Der Autor ist Journalist und Therapeut. Er führt in München eine Praxis für Paarberatung.