Das Problem mit Heiligen ist: Anders als echten Menschen gesteht man ihnen Zweifel, Schwächen und Überforderung nicht zu. Heilige haben perfekt zu sein. Und so gilt in einer patriarchal verfassten Gesellschaft für Mütter nur umso mehr, was für Frauen ohnehin wahr ist: Egal, was sie tun, sie können nicht gewinnen. Ob Hausgeburt oder Periduralanästhesie, ob sie nach drei Monaten wieder arbeiten gehen oder nach drei Jahren, ob sie in der Erziehung helikoptern oder einen Laissez-faire-Ansatz pflegen: Sie machen immer entweder zu viel oder zu wenig und werden dafür implizit und offen geäußerte Kritik erfahren. Eine Mutter ist entweder Glucke oder Rabenmutter und kraft der ihr verliehenen Übermacht am Ende diejenige, die für jegliche Deformationen des Kindes von Asthma über Magersucht bis Narzissmus vollumfänglich und allein verantwortlich gemacht wird.
Wie die ARTE-Dokumentation „Die Erfindung der guten Mutter“ nachzeichnet, hat der Mythos von der perfekten Mutter eine lange Geschichte. Noch im 17. Jahrhundert spielte die Mutterliebe, wie wir sie heute kennen, keine besondere Rolle. Der Adel und später auch das Bürgertum empfanden die Sorge um Neugeborene als lästig, sie ließen ihre Kinder sehr oft fremdstillen. Erst die Aufklärung und ihre Pädagogik erklärten die Mutter zur Schlüsselfigur für die Sozialisation des Kindes. Der Nationalstaat bis hin zum Nationalsozialismus überhöhte die Figur der „natürlichen“ Mutter noch weiter. Auf diese Weise wurde Mutterschaft zu einer umfassend erfüllenden Tätigkeit erklärt – eine so wirkmächtige wie absurde Idee, die unsere Vorstellungen bis heute beeinflusst. Die traditionelle Familie formiert sich also um diese zu Opfer und Hingabe bereite Mutter herum, während der arbeitende Vater von der Intimität zu den Kindern ausgeschlossen bleibt – als unfähiger, sogar trotteliger Zaungast.
Allerdings wird von Frauen heute genauso erwünscht wie erwartet, und zwar auch von ihnen selbst, dass sie außerhalb des Haushalts arbeiten gehen – ganz so, als hätten sie keine Kinder, während sie sich gleichzeitig weiterhin um die Kinder zu kümmern haben, als hätten sie keine Erwerbsarbeit. Dazu kommen Ansprüche an das Äußere (schlank und schön), das Freizeit- und das Intimleben von Müttern (aktiv und aufregend).
Was hilft gegen diese heillose Überfrachtung der Mutterrolle? Vor allem das Verteilen der Lasten auf mehrere Schultern. Das heißt die der Väter, die endlich und selbstverständlich mindestens die Hälfte der anfallenden Arbeit und der Verantwortung übernehmen. Es ist ein Skandal, wie zwei Menschen, die in der Regel gleichermaßen an der Entstehung eines Kindes beteiligt waren, mit zweierlei Maß gemessen werden – wie viel die Gesellschaft Vätern durchgehen lässt, wofür sie Frauen aufs Härteste verurteilt. Es ist kein Zufall, dass es den Begriff „Rabenvater“ ebenso wenig gibt, wie es bis heute kaum jemanden aufregt, wenn ein Mann die Verantwortung für ein Kind bis auf ein paar Papa-Wochenenden und die Ferien einfach abgibt. Frauen hingegen, die sich aus ihrer Mutterrolle verabschieden, sind ein noch größeres Tabu und werden noch härter geächtet als solche, die ihre Mutterschaft anonym bereuen.
FÜTTERN UND WICKELN? AUCH MÄNNERSACHE!
Und doch war in einer Studie des Allensbach-Instituts noch jede dritte Frau und fast jeder dritte Mann ernsthaft der Meinung, Frauen könnten Kindern besser vorlesen als Männer. Lautet die feministische Losung heute längst, dass Frauen alles können, was Männer tun (und das blutend), ist es nun höchste Zeit für eine andere Wendung: In Sachen Sorgearbeit sind Männer selbstverständlich zu allem imstande, was Frauen auch tun: füttern, wickeln, trösten, vorsingen, vorlesen, kurz: kümmern. Das erfordert auf beiden Seiten Bereitschaft: zum Loslassen der Verantwortung und zum Annehmen derselben. „Mütterlichkeit braucht kein Geschlecht“, so formuliert es die Psychotherapeutin Helga Krüger-Kirn in der Doku.
Was es dagegen braucht, um mehr Mütterlichkeit abseits der Mutter zu ermöglichen, sind Erwerbsarbeitsmodelle abseits der 40-Stunden-Woche und die Normalisierung etwa von längeren Auszeiten vom Job, in denen Männer wie Frauen sich um Kinder, aber auch Alte und Kranke kümmern können. Davon hätten neben den Frauen auch alle anderen etwas: Väter gewännen schon früh eine echte Bindung zu ihrem Nachwuchs, wahre Intimität, während sie selbst im Leben ihrer Kinder nicht länger meist abwesende und damit leicht zu idealisierende Figuren wären, sondern richtige, echte, ernstzunehmende Menschen mit Schwächen, Fehlern und Emotionen. Für diese Kinder ist die Welt dann offen und voller Möglichkeiten, statt strikt zweigeteilt in weibliche und männliche Sphären mit ihren Aufgaben, die sich entlang der Gegensätze Emotion und Ratio, Familie und Wirtschaft, abgewertete Sorgearbeit und gefeierte Erwerbsarbeit organisieren. Wer eine menschliche Gesellschaft will, muss die geschlechtergetrennte Gesellschaft überwinden.
Wie wenig „natürlich“ die Überfrachtung der Mutterrolle ist, zeigt auch ein Blick in die Geschichte: 95 Prozent ihrer gesamten Zeit auf der Erde lebten die Menschen in Verbänden verschiedener Generationen und Verwandtschaftsgrade zusammen. Und nur ein kleiner Teil dieser Menschen, die sich so Nahrung und Kinderbetreuung teilten, waren eng miteinander verwandt. Meist handelte es sich um entfernte oder gar nicht mit ihnen Verwandte. Forscher machen diesen dem Menschen eigenen Umstand für seine beispiellose kulturelle Evolution verantwortlich.
ZUSÄTZLICHE ELTERNFIGUREN
Um den auf der Einzelnen lastenden Druck zu verringern, könnten als zusätzliche Elternfiguren auch in hiesigen Gesellschaften zum Beispiel Onkel und Tanten, Opas und Omas, alleinstehende Freund:innen aller Gender und Altersgruppen infrage kommen – alle, die der Meinung sind, dass die Betreuung und Erziehung von Kindern nicht die Privatsache deren leiblicher Mütter ist, sondern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Eine lohnende sogar. Eine, die jeder und jede erlernen kann.
In anderen Ländern wird das längst – oder immer noch – so gehandhabt. So besagt etwa ein vietnamesisches Sprichwort: „Stirbt auch der Vater, so bleibt doch der Onkel; stirbt auch die Mutter, so reicht die Tante dir die Brust.“ In weiten Teilen Afrikas ist es nicht ungewöhnlich, dass Kinder, wenn es die Umstände erfordern, statt bei ihren Eltern bei Tanten, Onkeln oder Großeltern leben, wobei die verwendeten Bezeichnungen „Auntie“ und „Uncle“ weniger die tatsächlichen Schwestern oder Brüder der Eltern bezeichnen, sondern irgendeinen weiblichen beziehungsweise männlichen Verwandten. Wird bei den Baatombu in Nordbenin ein Kind geboren, beglückwünschen sich alle Anwesenden gegenseitig mit der Formel: „Wir, welch ein Segen“. Neben den Erzeugern erhalten besonders die Großeltern des Kindes sowie seine Tanten und Onkel Gratulationen. In Teilen Südamerikas existiert ein System namens „compadrazco“, in dessen Rahmen Paten Verantwortung für die Kinder anderer Eltern übernehmen.
DIE TRENNUNG DER SPHÄREN SEX UND REPRODUKTION
Die Soziologin Eva Illouz illustrierte mal ein Szenario, in dem sich mehrere Mütter, die mithilfe von Samenbanken oder -spenden schwanger geworden sind und nah beieinander leben, zusammentun, um die Kindererziehung untereinander und mit alleinstehenden Männern zu teilen, während sie mit anderen Männern Liebesbeziehungen eingehen. Was den zusätzlichen Vorteil hätte, dass sich die Rollen Frau und Mutter und die Sphären Sex und Reproduktion im Alltag so trennen und abwechselnd einnehmen lassen, statt sie immer gleichzeitig performen zu müssen. Noch ein wenig utopischer plädiert die Autorin Sophie Lewis in ihrem Buch „Full Surrogacy Now“ (2019) sogar für die Abschaffung der Familie und damit der allmächtigen, alleinverantwortlichen Mutter. Lewis schreibt von „Polymutterschaften“ und „Schwangerschaftskommunismus“ und träumt von einer Welt, in der alle für alle sorgen.
In dieser Welt müssten Frauen keine Angst davor haben, als Mütter nicht zu genügen. Sie könnten aufhören, andere Frauen für ihre Entscheidungen zu verurteilen und sie auf diese Weise abzuwerten. Dann könnte sich die Erkenntnis vollends durchsetzen, dass Mutterschaft kein Wettbewerb ist, in dem sich Einzelkämpferinnen an allen Fronten verausgaben müssen, sondern ein Raum für Solidarität, gegenseitige Hilfe und Unterstützung.
Und bis es so weit ist? Der englische Kinderpsychoanalytiker und Kinderarzt Donald Winnicott führte in den 1950er Jahren einen Begriff in die Psychoanalyse ein, mit dem sich der Mutter-Mythos gedanklich dekonstruieren lässt. Seine Theorie der „good enough mother“ besagt, dass eine „ausreichend gute Mutter“ in der Lage ist, auf die Bedürfnisse des Babys zumindest so weit einzugehen, dass es sich nie komplett verlassen fühlt. Übertragen auf den Alltag mit Kindern aller Altersgruppen bedeutet das: Als Mutter (und jede andere Betreuungsperson) reicht es, gut genug zu sein. Es hilft, sich das bei Bedarf gern mehrmals am Tag klarzumachen: Nicht perfekt, sondern gut ist gut genug.
[...] stirbt auch die Mutter, so reicht die Tante dir die Brust