Das System Pflege krankt

Lange waren Altenheime Renditeobjekte. Weil Kosten steigen und Personal fehlt, rechnet sich das Geschäftsmodell nicht mehr. Dabei wächst der Bedarf in einer alternden Gesellschaft.

Rentner mit Gehstock
Foto: LUVLIMAGE/Getty Images

Ein Pflegeheim-Skandal erschütterte 2022 Frankreich. Journalist und Autor Victor Castanet hatte gravierende Missstände in Einrichtungen der Orpéa Group enthüllt: Hygienemängel aufgrund rationierter Windeln und hungernde Heimbewohner, die wegen Personalmangels kein Essen bekamen. Im Buch „Les ­Fossoyeurs“ („Die Toten­gräber“) prangerte ­Castanet das Modell renditeorientierter Altenpflege insgesamt an. Zwei Jahre danach hat sich der Orpéa-Konzern mit seinen weltweit mehr als 1.000 Heimen, davon rund 190 in Deutschland, soeben in ­Emeis umbenannt. Die Namenskosmetik beruhigt vielleicht Aktionäre – das System Pflege aber krankt weiter. Der ARTE-Dokumentarfilm „Gold­grube Alten­heim“ stellt die Frage, wie Europas Gesellschaften mit dem rapide wachsenden Betreuungsbedarf zumeist Hochbetagter umgehen sollen.

Goldgrube Altenheim

Dokumentarfilm

Dienstag, 14.5.
— 20.15 Uhr
bis 18.8. in der
Mediathek 

In Deutschland erhalten laut Bundesgesundheitsministerium rund 5,2 Millionen Menschen Geld aus der sozialen oder privaten Pflegeversicherung. Seit der Jahrtausendwende hat sich die Anzahl der Pflegebedürftigen mehr als verdoppelt, bis 2035 sollen es – vorsichtigen Schätzungen zufolge – rund sechs Millionen sein. Vier von fünf auf Pflege Angewiesene werden zu Hause betreut, von Angehörigen, unterstützt durch ambulante Dienste. Die gut 900.000 Plätze in 11.500 Pflegeheimen hierzulande belegen überwiegend Menschen mit höherer Pflegestufe, 60 Prozent sind dement.

Lange Zeit teilten sich die stationäre Pflege kommunale und gemeinnützige Träger wie Diakonie, Caritas oder Rotes Kreuz. Dazu kamen private Gründer, die einzelne Häuser betrieben. In den vergangenen Jahrzehnten aber drängten verstärkt Pflegekonzerne, davon etliche aus Frankreich, auf den kleinteiligen deutschen Markt. Finanzinvestoren suchten Anlagemöglichkeiten für Milliardenbeträge, Übernahmen und Konzentrationsprozesse versprachen satte Renditen. Doch das ist vorbei. „Wir stehen an einem Wendepunkt“, sagt der Sozialwissenschaftler ­Stefan Sell. Das Geschäftsmodell habe zum einen darauf beruht, Immobilie und Pflegebetrieb zu trennen und sich selbst horrende Mieten zu zahlen. Das sei aber nur durch ­Drücken des Personaletats möglich gewesen, „der in Heimen mindestens 70 Prozent der Gesamtkosten ausmacht“, erläutert der Professor an der Hochschule Koblenz im Gespräch mit dem ARTE Magazin. Nicht zuletzt eine im September 2022 eingeführte Tarifbindung erschwert diese Praxis. Auch die zweite Säule der Gewinnstrategie bricht weg: Die Heime ließen sich nicht mehr länger mit teils zweistelligen Aufschlägen an den nächsten kapitalstarken Käufer weiterreichen, sagt Sell.

EXPLODIERENDE ZUZAHLUNGEN

Die Folge sind Hunderte von Insolvenzen und – anders als bisher – zunehmend Heimschließungen. Die betreffen keineswegs nur die Goldgräber. Den Kostendruck durch besser bezahltes Personal, aber auch notwendige Investitionen in die vielen älteren Heime spüren alle Träger. Weil die Pflegesätze der Versicherungen gedeckelt sind, „explodieren die Zuzahlungen“, so Sell. Immer häufiger seien Pflegebedürftige auf Sozialhilfe angewiesen, oft mehr als die Hälfte der Bewohner eines Heimes. Nicht selten müssten Betreiber monatelang in Vorleistung gehen, bis Zahlungen der Ämter fließen. Von einer „toxischen Kombination aus Finanzproblemen und Fachkräftemangel“ spricht der Experte und warnt vor einem „großen Pflegeheim-­Sterben: Wir rauschen in einen Versorgungsnotstand“.

Das Dilemma aus wachsendem Bedarf bei weniger Heimplätzen will Gesundheitsminister Karl ­Lauterbach (SPD) mit der sogenannten stambulanten Pflege lösen. Das Kunstwort vereint stationär und ambulant. Schon heute sind Pflege-Wohngemeinschaften auf dem Vormarsch, in denen Hilfskräfte die Bewohner betreuen und Pflegefachkräfte nur für punktuelle Einsätze dazukommen. „Das Problem ist, dass man dort noch weniger Kontrolle hat“, zeigt sich Wissenschaftler Sell skeptisch. Es fehlten jegliche Erkenntnisse zur Pflegequalität.

Bei den Altenheimen erwartet er eine ausgeprägtere Zweiklassen-­Gesellschaft: Profitorientierte Anbieter würden sich nach dem Ende der Expansionswelle aufs hochpreisige Segment für Zahlungskräftige fokussieren. Und alle anderen? Stefan Sell erinnert sich an einen Termin, bei dem ein Investor die Rückkehr von Heimen mit Zwei- und Dreibettzimmern in Aussicht gestellt habe. Dafür hat Sell nur ein Wort: „Pervers.“