Er schleicht sich von hinten an die junge Frau heran und stößt sie geräuschlos aus dem Fenster. Er vergiftet eine Baronin mit opiumgetränkten Rosen. Er setzt mit Pest befallene Ratten auf einem Ozeandampfer aus und sieht lustvoll dabei zu, wie die Passagiere sich vor Schmerzen winden. Fantômas, daran lassen die Erfinder der Romanfigur keinen Zweifel, ist unfassbar böse. Dabei ist der Mann mit den tausend Gesichtern nicht zu fassen: „Er ist alles und nichts. Er ist niemand – und gleichzeitig jedermann“, antwortet Kommissar Juve in „Ein Zug verschwindet“ (1912) auf die Frage, wer der gesuchte Unruhestifter sei. Was Fantômas anrichte? „Angst. Er macht Angst.“
Bereits von dem ersten Band der Romanreihe, den die Journalisten Pierre Souvestre und Marcel Allain im Jahr 1911 veröffentlichten, verkauften sich mehr als 800.000 Exemplare. Bis 1913 schrieb das Autorenduo aus Paris 31 weitere Fantômas-Geschichten, die Millionen von Leserinnen und Lesern in ihren Bann zogen. Zeitweise übertraf die Auflage der Romane in Frankreich die der Bibel. Um dem Pensum von bis zu 380 Seiten pro Monat nachzukommen, sprachen Souvestre und Allain ihre Kapitel arbeitsteilig auf Phonographenwalzen, die von Stenografinnen transkribiert wurden.
In jedem Roman nimmt Fantômas eine Vielzahl unterschiedlicher Identitäten an – und treibt den rechtschaffenen Kommissar Juve an den Rand des Wahnsinns. Denn der „Meister der Verwandlungen“ ist ihm – und seiner Zeit – voraus: Im Frankreich des frühen 20. Jahrhunderts verwischt er durch sein Rollenspiel nicht nur nationale und geschlechtsspezifische Grenzen, sondern auch die zwischen Bourgeoisie und Proletariat. So steckt hinter der freundlichen Fassade der Concierge Madame Cieron natürlich: Fantômas. Und der Magier, der auf der Place de la Concorde auf die Menge einredet? Fantômas. Der deutsche Botschafter Baron de Naarvobeck, der Landstreicher Ouaouaouaoua, der Londoner Zahnarzt Dr. Garrick: Fantômas. Die ARTE-Dokumentation „Fantomas gegen Louis de Funès“ blickt hinter die Maskerade des brutalen wie genialen Charakters, der nachfolgenden Helden und Schurken als Inspiration diente: von Zorro über Batman bis zum Joker.
„Fantômas ist der erste Serientäter, der nicht im Sinne des englischen Kriminalromans überführt wird“, betont der Filmwissenschaftler Thomas Brandlmeier im Gespräch mit dem ARTE Magazin. Im Buch „Fantômas – Beiträge zur Panik des 20. Jahrhunderts“ analysiert er die Romanreihe und stellt fest: Deren Autoren kehren das gängige Schema um. Laut Brandlmeier machten sie den Täter nicht zum allseits Gejagten, sondern zum Jäger aller – und ließen das Böse haushoch triumphieren. So schufen die Autoren mit Fantômas nicht nur den „ersten Psychopathen der Popkultur“ (Der Spiegel), sondern machten diesen auch zum Helden. Er lässt Züge entgleisen, Autos in Flammen aufgehen und mäht reihenweise Polizisten nieder. In letzter Konsequenz, so Brandlmeier, übe er als „Anarchoverbrecher“ Kritik am bürgerlichen Staat und seinen Einrichtungen, denn: „Was ist schon der Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?“ Als Antithese zum braven Spießbürger avancierte Fantômas zur Kultfigur der surrealistischen Avantgarde: Guillaume Apollinaire gründete eine Fantômas-Freundschaftsgesellschaft, Kurt Weill vertonte ein Fantômas-Gedicht, der Maler René Magritte schuf gleich mehrere Fantômas-Werke.
Vom Romanhelden zum Staatsfeind
Die Verfilmung der Kriminalromane durch Louis Feuillade rief ab 1913 zunehmend Kritiker auf den Plan: jene, die sich im Besitz der Moral wähnten. Der Fantômas-Darsteller René Navarre wurde im Pariser Nachtleben mehrfach attackiert – ironischerweise im Namen von Recht und Ordnung. Der Bürgermeister von Paris sowie kirchliche Vertreter bewirkten schließlich Zensuren der Filme, nach fünf Teilen wurden weitere Dreharbeiten eingestellt. In Intellektuellenkreisen waren es später die Schrecken des Zweiten Weltkriegs, die Fantômas in anderes Licht rückten. 1950 betitelte der Schriftsteller André Breton Fantômas als „romantische Version faschistischer Faszination“ und verwies auf die Parallelen zwischen anarchistischer und faschistischer Ideologie. Fantômas verschwand von der Bildfläche – jedoch nur vorübergehend. 1964 inszenierte der Regisseur André Hunebelle die Romanreihe als Kriminalkomödie. Fantômas tritt darin als Persiflage seiner selbst auf – und sorgt erneut für kontroverse Reaktionen: Als Witzfigur fehle ihm die moralische Ambivalenz, die die Buchreihe auszeichnete, so die Kritik. Fantômas hat durch den Imagewechsel jedoch zumindest eines bewiesen: Er ist und bleibt der Meister der Verwandlung.
Fantômas ist eine Kritik am bürgerlichen Staat und seinen Einrichtungen