Amerikas Seelensucher

Neil Youngs Lieder sind Hymnen der 68er-Bewegung und ihrer Erben. Dabei singt er am liebsten über Adler, Canyons und Berge. Wie passt das zusammen?

Neil Young während einer Bandprobe in Los Angeles im Jahr 1969. Aufgenommen von Graham Nash, der nicht nur Youngs Bandkollege im Quartett Crosby, Stills, Nash & Young war – sondern auch leidenschaftlicher Fotograf. Foto: Graham Nash / picture alliance / AP

Wer Neil Young auf seiner Ranch in Kalifornien besuchen will, wird zu einem Parkplatz an einer Landstraße südlich von San Francisco bestellt. Die Straße trägt den Namen Skyline Drive, sie schlängelt sich über die Gipfel der Hügel, gesäumt von gewaltigen Redwood-­Bäumen, einige mehrere Hundert Jahre alt – und damit deutlich älter als der heute 75-jährige Neil Young. An dem Parkplatz liegt das sogenannte Mountain House, ein roter Holzsaloon für Wanderer, Hippies und sonstige der Zivilisation verloren Gegangene. Als ich vor einigen Jahren dort auf Neil Young wartete, klapperte irgendwann ein noch aus dem 20. Jahrhundert stammender, hellblauer Mercedes auf den Parkplatz. Der Fahrer ließ die Scheibe runter – sichtbar wurden Sonnenbrille, Koteletten und weiße Haarsträhnen – und rief: „Fährt mit Biodiesel!“

Er stieg aus, in Holzfällerhemd und verdreckten Wanderstiefeln, ließ seine Sonnenbrille auf der Nase einen Zentimeter tiefer rutschen, zeigte so kurz seine wirklich blauen Augen und sagte: „Hi, ich bin Neil“, während sich aus dem Beifahrersitz des Mercedes sein Manager quälte. Zwei alte weiße Männer, würde man heute vermutlich sagen, doch damals gab es diese Zuschreibung noch nicht. 1966 zog Neil Young aus Kanada nach Los Angeles. Dank seiner Songwriterbegabung spielte er bald in einigen heute legendären Bands (­Buffalo ­Springfield, ­Crosby, Stills, Nash & Young, ­Crazy ­Horse) und bestückte fortan auch als Solokünstler den Popkanon des 20. Jahrhunderts mit ein paar unvergessenen Liedern. Nebenbei äußerte er sich immer wieder konkret politisch, in seinen Liedern, aber auch außerhalb. Oft bereute er es danach. ARTE zeigt im April ein Porträt des Songwriters und fokussiert dabei vor allem auf seine kompromisslosen Seiten.

Als Young damals in seinem Mercedes auf den Parkplatz vor dem Mountain House tuckerte, war ­George W. Bush gerade in seinem letzten Amtsjahr, befehligte seit fünf Jahren einen zehrenden Militäreinsatz im Irak und hatte nicht mit Neil Young gerechnet. Der hatte bereits 2006 ein Album mit Liedern gegen Bush und den Krieg veröffentlicht („Living with war“) und forderte in deutlichen Worten die Amtsenthebung des Präsidenten. Es war eine Kritik, die Bush traf, denn sie kam von einem Gleichgesinnten. Von Rancher zu Rancher, wenn man so will, von Patriot zu Patriot. Denn das war immer Neil Youngs Projekt: den Rechten das mythische Amerika wegzunehmen. Young hat immer wieder über die Adler, die Canyons, die Berge und die Menschen dazwischen gesungen, sein altes Amerika, das er liebt, in dem die gewaltigen Mähdrescher „breiter als zwei Fahr­spuren“ seien, wie es in seinem Song „­Thrashers“ heißt, wie diese Maschinen als Boten der Zivilisation hereinbrechen in ein ursprüngliches Amerika.

Neil Young – Songwriter ohne Kompromisse

Porträt

Freitag, 22.4. — ab 21.45 Uhr

bis 20.6. in der Mediathek

Von Buffalo Springfield über Crosby, Stills, Nash & Young bis zu seiner Band Crazy Horse: Neil Young hat es sich nie einfach gemacht. Als pazifistischer Outlaw möchte er die Welt ein wenig besser machen. Foto: Goyaves / ARTE F

In den europäischen Gesellschaften wäre dieses Beharren auf einen natürlichen und vorzivilisatorischen Zustand ein klassisch reaktionärer Topos. Für Young war das immer anders. Er hat versucht, seine durchaus patriotische Liebe für dieses Land mit den klassisch linken Themen von Pazifismus, Gerechtigkeit und Inklusion zusammenzuführen. Er ist Rancher, sein Ranchland beginnt gleich hinter dem Parkplatz am Skyline Drive und erstreckt sich hinunter bis zum Pazifik.

Schon 1970 hatte er sich zusammen mit seinen Musikern in die Redwood-Landschaft südlich von San Francisco zurückgezogen, eine Hütte im Canyon, „ein Bach davor, Vögel und Tiere“, wie er erzählte, nicht weit von seiner jetzigen Ranch. Sie waren aus Los Angeles gekommen und wollten hier Folksongs für das große amerikanische Songbook schrei­ben. Die 1960er waren gerade vorbei. Young hatte in Woodstock gespielt und es gehasst. Er war in Altamont aufgetreten, wo die Ordner der Hells Angels einen Zuschauer töteten. Er hatte die Morde an ­Sharon ­Tate und ihren Freunden in L. A. miterlebt; es war ein Blutbad, angerichtet von Jüngern seines Bekannten ­Charles ­Manson, mit dem Young einige Male zusammen Musik gemacht hatte und dem er eigentlich einen Plattenvertrag hatte besorgen wollen. In der Hütte im Canyon fiel Youngs Blick auf das Titelblatt des Life Magazine, das irgendjemand mitgebracht hatte. Er sah darauf einen verletzten Studenten am Boden liegen, niedergeschossen von der Nationalgarde auf dem Campus der Kent State University in Ohio. Vier Studenten wurden getötet, viele mehr verletzt, vom eigenen Militär, das Präsident ­Nixon auf die Studenten gehetzt hatte. In die große amerikanische Schönheit hinein platzten Trauer und Entsetzen. Young ging in den Redwood-Wald hinaus und begann sofort zu schreiben: „Tin soldiers and ­Nixon coming / We’re finally on our own / This summer I hear the drumming / Four dead in Ohio.“

It’s better to burn out than to fade away

Neil Young im Song „Hey Hey, My My“ (1979)
Schwarz-weiß Fotografie der Band Buffalo Springfield
Hippieträume: Die sogenannte Supergroup Buffalo Springfield posiert 1966 in Hollywood, Neil Young versteckt sein Gesicht hinter dem Teen Magazine. Foto: Michael Ochs Archives / Getty Images

Ein Verteidiger – gegen Wandel und Niedergang

Es entstand eines der wirkmächtigsten Protestlieder der Rockgeschichte und das erste von einigen in der Laufbahn von Neil Young. Andere hießen „After the Goldrush“ (Umwelt, 1970), „Alabama“ (Rassismus, 1972), „Powderfinger“ (Schusswaffengewalt, 1979), „Rocking in the Free World“ (Soziale Ungleichheit, 1989) oder „Let’s Impeach the President“ (Irak, 2006). Der Impetus hinter diesen Songs war stets, wenn auch nicht politisch, so doch psychologisch konservativ. Young schien das Gefühl zu haben, ein ideelles Amerika gegen Wandel und Niedergang verteidigen zu müssen; ein Land, in dem sich nach dem Optimismus der 1960er und 1970er die Träume einer gerechteren, friedlicheren Welt doch nicht erfüllten. Das Sinnbild dieses ideellen Amerikas fand Young in dem Typus des Farmers, den er für den „true American“ hielt. Als Landwirte im Zuge der Automatisierung der Agrarwirtschaft in den 1980ern unter Druck gerieten, organisierte er Festivals für sie.

Wenn man sich die Auftritte des mittelalten Neil Youngs aus jener Zeit anschaut, hat man das Gefühl, dass ihm die Politik nicht guttat. Young wirkte unerlöst und bisweilen wütend, wenn er über Agrarsubventionen redete – was tragisch war, weil er der Welt schon gezeigt hatte, zu welch feinfühligen und zerbrechlichen Folk-Liedern er in der Lage war, am gelungensten wohl auf seinem Meisterwerk „Harvest“ von 1972. Er hatte sein Publikum durch mitunter obsessive Bespiegelungen seiner Seelenkonflikte herausgefordert auf den Alben der sogenannten „Ditch Trilogy“ („Time Fades Away“, „On the Beach“, „Tonight’s the Night“) und bittere Abrechnungen mit dem Idealismus seiner Generation nach dem Ende der 1960er vollzogen. Gleichzeitig hatte er vorgeführt, welche Betonwände erschütternde Energie er entfachen konnte, wenn er die Folkgitarre kurz mal durch seine elektrisch verzerrte Gibson Les Paul Goldtop ersetzte wie auf „Rust Never Sleeps“ (1979), sein anderes Meisterwerk, das auf den ikonischen hingetrümmerten Refrain „Hey hey, my my / Rock and Roll can never die“ endet und damit zehn Jahre zu früh den Grunge-Rock der späten 1980er vorwegnahm. Die scheppernden Akkorde dieses Songs zusammen mit der Zeile „It’s better to burn out than to fade away“ markierten vorerst auch die persönliche Befreiung des Künstlers Young von der Enttäuschung über den zerborstenen Hippietraum und die eigenen Dämonen.

Neil Young und seine Band Crazy Horse live
Neil Young und seine Band Crazy Horse live in Tokyo im Jahr 1976. Foto: Koh Hasebe / Shinko Music / Getty Images

Er hatte der Welt gezeigt, dass er vor allem ein mit sich hadernder Künstler war, kein Politiker und eigentlich auch kein Aktivist. Mehrfach verkündete er, keine politischen Songs mehr zu schreiben, denn das sei wie „in den Wind zu pissen“. Doch er konnte den Protest nicht lassen. Neil Young zu hören geht dieser Tage nicht ohne Weiteres – zumindest nicht auf der Streaming-­Plattform Spotify, wo Young sein Werk unlängst hat sperren lassen. Aus Protest gegen den dort vertretenden Interview-Podcaster Joe ­Rogan, der in seiner Sendung unwidersprochen Covid-19-Verschwörungstheorien zugelassen hat. Als seine alte Freundin ­Joni ­Mitchell Youngs Beispiel folgte, ließ sich der Streit mit dem 54-jährigen ­Rogan auch als Showdown begreifen zwischen den alt gewordenen Boomern und ihrer Nachfolgegeneration, die sich vom Moralisieren eines Neil Youngs zeitlebens bedrängt gefühlt hatte. Aber das sind eben die Nachwirkungen des Hippietraums.

Young mit seiner damaligen Ehefrau Pegi bei einem Konzert in Mountain View, Kalifornien, 2004. Foto: Mazur / WireImage / Getty Images

Dass ihn dieser nie verlassen hat, darüber sprachen wir, als wir uns das letzte Mal trafen, 2012 in New York. Young war inzwischen 66 Jahre alt und hatte sich in seiner Autobiografie „Waging Heavy Peace“ gerade einige Gedanken gemacht zu seinem Coming of Age in den 1960ern und den moralischen Verpflichtungen, die sich für ihn daraus ableiteten und ihn nie richtig losgelassen hatten. Mit einer anderen Nachwirkung der 1960er hatte Young damals gerade aufgeräumt. Er nahm zum ersten Mal seit 50 Jahren keine Drogen mehr. Eine große Sache für ihn, wie er sagte; er habe im Grunde kein Lied seines bahnbrechenden Werks nüchtern geschrieben, zumindest ein paar Joints seien immer im Spiel gewesen, manchmal auch mehr, aber niemals Heroin. An das hatte er seinen Freund und Crazy-Horse-Gitarristen ­Danny ­Whitten verloren. Lange hatte Young sich für dessen Tod 1972 die Schuld gegeben, weil er ­Whitten kurz vor seiner Überdosis aus der Band geschmissen hatte.

In New York spielte Young dann noch mit seiner Band Crazy Horse ohne Whitten auf einer Bühne im Central Park. Das erste Mal hatte er in dieser Formation 1969 zusammengespielt, ein paar Monate vor dem Festival in Woodstock. Im Central Park, 43 Jahre später, wurde es ein Auftritt mit sehr viel verzerrten Gitarren und Feedback-Orgien, der Neil Young am Ende völlig erschöpft zurückließ.