Andreas Dresen ist kein Mann für einfache Wahrheiten. Seine Figuren stecken voller Ambivalenzen: Sie sind nervig und herzensgut, idealistisch und festgefahren. Wie die Titelfigur in „Gundermann“ (2018): der DDR-Liedermacher Gerhard Gundermann, der im Vorprogramm von Bob Dylan sang, an Großes glaubte und für die Stasi spionierte. Bekannt wurde Dresen, der aus einer Künstlerfamilie in Schwerin stammt, mit der Tragikomödie „Sommer vorm Balkon“ (2005). Für den Film „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ (2022), den ARTE im September zeigt, widmete er sich dem wahren Fall des Terrorverdächtigen Murat Kurnaz, der fünf Jahre lang unschuldig im US-Gefängnis Guantanamo saß. Dresen erzählt aus der Perspektive von Kurnaz’ Mutter Rabiye, einer Hausfrau aus Bremen, die bis vor den Obersten Gerichtshof der USA zieht, um ihren Sohn freizubekommen – und Recht bekommt.
ARTE Magazin Herr Dresen, was halten Sie vom Begriff der Authentizität?
Andreas Dresen Er taucht immer wieder im Zusammenhang mit meinen Filmen auf – aber ich persönlich glaube nicht an Authentizität im Kino. Der Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase hat den schönen Satz gesagt: „Wenn es im Film so aussieht wie im richtigen Leben, hat mehr als ein Mensch mehr als einen Tag viel Arbeit gehabt.“ Wer ins Kino geht, bekommt eine künstlerische Absicht geboten. Man sieht immer nur den Ausschnitt, den die Filmemacher einem zeigen. Ich würde sagen: Wer sich einen authentischen Eindruck von der Realität verschaffen will, der guckt besser aus dem Fenster.
ARTE Magazin Haben Sie schon Projekte abgelehnt, weil sie Ihnen zu weltfremd gewesen wären?
Andreas Dresen Wenn es sehr fantastisch wird, kann ich schwer andocken. Aber da ich kein typischer Regisseur für Fantasy-Spektakel bin, passiert mir das eher selten. Ich schaue manchmal gerne solche Filme, könnte sie aber nicht machen.
ARTE Magazin Ihr Drama „Rabiye Kurnaz gegen George W. Bush“ handelt vom Fall Murat Kurnaz, der jahrelang ohne Anklage in Guantanamo saß. Wieso erzählen Sie die Geschichte aus Sicht seiner Mutter?
Andreas Dresen Wir sind schlicht daran gescheitert, die Perspektive von Murat einzunehmen. Sie ist in unserer Wirklichkeit unvorstellbar. In Guantanamo gibt es keine Hoffnung, denn die Leute sitzen dort ohne Aussicht auf Befreiung. Sie haben kein Urteil, kein rechtsstaatliches Verfahren. Sie wissen nicht, ob sie dort jemals herauskommen. Es ist eine kafkaeske Situation. Das hat es schwer gemacht, daraus ein Drehbuch zu entwickeln. Irgendwann habe ich bei einem Abendessen Murats Mutter Rabiye kennengelernt. Ich habe mich sofort in diese Frau verliebt, weil sie mit ihrer Lebensfreude eine solche Energie ausgestrahlt hat.
ARTE Magazin Obwohl bald klar war, dass Murat Kurnaz kein Terrorist ist, lehnte die Bundesregierung es ab, ihn nach Deutschland zu holen. Gab es nach dem Film eine Reaktion von offizieller Seite?
Andreas Dresen Leider nicht. Frank-Walter Steinmeier blieb dabei, die Bundesregierung habe rechtens gehandelt, obwohl es zahlreiche Dokumente und Fakten gibt, die das Gegenteil belegen. Das macht mich wütend. Ich finde unbegreiflich, warum man nicht die Größe hat, sich bei einem Menschen wie Murat Kurnaz zu entschuldigen. Von einer Entschädigung ganz zu schweigen. Was dieser Familie widerfahren ist, ist ein Unding.
ARTE Magazin Dennoch ist Ihr Film oft witzig. War das Ihr Anliegen?
Andreas Dresen Das wäre uns zunächst seltsam erschienen. Aber mit Rabiye als Hauptfigur passierte es automatisch. Sie besitzt selbst in den düstersten Situationen einen wundervollen Überlebenswitz. Das ist ja eine schöne menschliche Eigenschaft: dass wir uns über Schrecklichkeiten und Zumutungen hinwegsetzen, indem wir die Dinge verlachen. Im Übrigen hat auch Murat einen sehr verschmitzten Humor. Er ist keineswegs ein verbitterter Mensch.
ARTE Magazin Hat sich die Verantwortung eines Filmemachers angesichts der vielen Krisen unserer Zeit verändert?
Andreas Dresen Ja. Die Filmemacher können zwar nicht die Probleme dieser Welt lösen, so schön es auch wäre. Aber wir müssen, wie alle Künstler und alle Menschen, auf sie reagieren. Ich glaube, es ist unsere Aufgabe, Geschichten zu erzählen, die die Gegenwart reflektieren. Und zwar künstlerisch gebrochen und so, dass sie die Herzen und Köpfe der Menschen bewegen.
Wer Realität haben will, der guckt am besten aus dem Fenster
ARTE Magazin In der Dokumentation über Ihr Leben heißt es, Sie würden etwas vom Ost-Kino weiterführen. Sehen Sie das so?
Andreas Dresen Nun, ich habe ein paar Jahre im Osten gelebt. Ich war Ende 20, als die Mauer fiel; das ist natürlich sehr prägend. Ich würde schon sagen, dass mich das osteuropäische Kino stark beeinflusst hat. Aber andere Filme auch: Der Sozialrealismus aus Großbritannien ist für mich wichtig, besonders Ken Loach. Aber auch Aki Kaurismäki oder die Dardenne-Brüder, um nur einige zu nennen.
ARTE Magazin Ostdeutsche Autorinnen wie Jenny Erpenbeck oder Brigitte Reimann werden in den USA derzeit sehr populär. Haben Sie eine Vermutung, wieso das gerade jetzt passiert?
Andreas Dresen Ich schätze, manchmal braucht es Anerkennung aus dem Ausland, damit die Leute registrieren, dass im Osten wichtige Kunst entsteht. Der Roman „Kairos“ von Jenny Erpenbeck ist vor drei Jahren erschienen. Jetzt, nachdem sie den Booker-Preis erhalten hat, lesen ihn plötzlich ganz viele, weil sie merken: Da habe ich vielleicht etwas verpasst. Grundsätzlich ist es immer so gewesen, dass die deutsche Geschichte gerade im englischsprachigen Raum eine große Faszination ausgeübt hat. Vor allem die Nazizeit. Das haben wir bei den Oscars gerade mit „Zone of Interest“ gesehen, der international sehr erfolgreich war. Aber auch die Umbrüche und Geschichten, die mit der DDR zu tun haben, sind interessant, weil ihre gesellschaftlichen Verhältnisse Zuspitzungen bieten, die für die Literatur oder auch für das Kino spannend sind. Man kann sich in extreme Umstände versetzen und überlegen, wie man selbst sich verhalten würde. Das kann lehrreich sein.
ARTE Magazin Jenny Erpenbeck beschreibt das Künstlermilieu in Ost-Berlin. Sie stammen aus einem ähnlichen Umfeld in Schwerin. Wie kann man sich diese Welt vorstellen?
Andreas Dresen Ich komme aus einer Theaterfamilie, in der es eine große Wachheit gab gegenüber den Verhältnissen in Ostdeutschland und auch den großen Wunsch nach Reformen, nach Demokratisierung, nach Öffnung des Landes. Viele Künstler haben die Wende aktiv begleitet. Rockmusiker haben auf ihren Konzerten Manifeste verlesen. Die Kunst besaß eine andere Funktion. Denn wenn Meinungsfreiheit fehlt, ist sie auch ein Kommunikationsmittel. Eine Diktatur ist furchtbar, kann zugleich aber für die Entstehung toller Kunstwerke produktiv sein, weil Künstler gezwungen sind, Zwischentöne zu suchen. Gehen sie zu weit, wird das natürlich sanktioniert.
ARTE Magazin Ist Ihnen das passiert?
Andreas Dresen Ich habe in der Familie erlebt, dass Theateraufführungen verboten wurden. Selbst ein Volksliederabend wurde 1989 noch untersagt, weil die Lieder vom Publikum nicht ohne Grund politisch interpretiert wurden: „Wo mag denn nur mein Christian sein, in Hamburg oder Bremen?“, das war zum Ende der DDR eine subversive Liedzeile.
ARTE Magazin Mit „In Liebe, Eure Hilde“ (2024) bringen Sie im Oktober das Leben der Widerstandskämpferin Hilde Coppi ins Kino. Warum war es Ihnen wichtig, diese Geschichte zu erzählen?
Andreas Dresen Hilde hat nichts Heldisches an sich. Sie war ein stiller Mensch und hätte sich wohl nie als Widerstandskämpferin bezeichnet. Sie hat getan, was man „dem Herzen folgen“ nennt – und dabei intuitiv das Richtige. Dafür hat sie mit dem Leben bezahlt. In der DDR bin ich mit einem Widerstandskämpferbild aufgewachsen, das vor Glorifizierung nur so triefte. Diese tapferen Menschen wirkten wie absolute Superhelden. Ich glaube, dass dahinter eine politische Absicht steckte: Wenn man den Widerstand so verklärt und vergrößert, traut man ihn sich als kleiner, normaler Mensch nicht zu.
ARTE Magazin Bei Ihnen sieht man dagegen auch Gewöhnliches aus dem Alltag dieser Menschen.
Andreas Dresen Ich fand es sehr berührend, mir Fotos dieser Gruppe anzuschauen, die die Gestapo später „Rote Kapelle“ nannte. Da sieht man junge Leute am Strand sitzen, beim Zelten, auf einem Segelboot, auf einem Motorrad. Also in alltäglichen Situationen. Und man merkt: Das waren einfach junge Leute, die haben sich verliebt, wollten eine Familie gründen, Kinder haben. Sie haben von Dingen geträumt, von denen viele träumen. Und auf einmal kann man sich mit ihnen identifizieren. Auch die Nazifiguren sind im Film brüchig. Das sind keine Monster. Ich finde es interessant, Protagonisten zu zeigen, die nahbar sind. Auch wenn sie Fehler machen oder sich auf furchtbare Art irren.
Zur Person
Andreas Dresen, Regisseur 1963 in Gera geboren. Zu seinen bekanntesten Filmen gehören „Sommer vorm Balkon“ (2005) und „Gundermann“ (2018). Im Oktober kommt„In Liebe, Eure Hilde“ (2024) ins Kino.