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chwarze Null, Exportweltmeister, Steuereinnahmen auf Höchstniveau, Rekordbeschäftigung – im Grunde müsste es den Deutschen gut gehen. Doch unter der Oberfläche all jener Erfolgsmeldungen verbirgt sich eine bedenkliche Schieflage: Seit 1992 haben sich die realen Nettolöhne nur um 0,4 Prozent erhöht, während die Unternehmenserlöse und die Einkommen der Wohlhabenden im gleichen Zeitraum um knapp 70 Prozent gestiegen sind. Die Schere zwischen Arm und Reich klafft weiter auseinander als je zuvor. Etwa neun Millionen Menschen sind laut Angaben des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) derzeit im Niedriglohnsektor tätig – eine Folge der Liberalisierung des Arbeitsmarkts, die seit rund 25 Jahren die Erwerbswirtschaft des Landes prägt.
„Die Entwicklung folgt einem gefährlichen Trend“, sagt der britische Wirtschaftswissenschaftler Guy Standing: „Seit Ende der 1980er Jahre stagnieren die Löhne der Arbeitnehmer weltweit. Zugleich steigen die Einkünfte aus vorhandenem Vermögen unaufhaltsam. Wir sind Zeugen einer gravierenden Umverteilung des Kapitals von unten nach oben.“ Aus der zunehmenden Ungleichheit resultiert massive Unsicherheit – vor allem in jener gesellschaftlichen Gruppe, die bislang mit ihrem Einkommen relativ gut auskam.
„Aus Teilen der Arbeiterschaft und der Mittelschicht ist eine neue Klasse entstanden: das Prekariat“, sagt Standing im Dokumentarfilm „Abschied von der Mittelschicht“, den ARTE im Februar zeigt. Rund ein Viertel der Europäer gehörten ihm bereits an. Was sie eint, sei die „Angst vor dem wirtschaftlichen Abstieg“. Und der kann schnell passieren: Schon eine Krankheit oder ein Unfall zum falschen Zeitpunkt können den Absturz bedeuten.
„Für den sozialen Zusammenhalt in der Bundesrepublik wird es entscheidend sein, inwieweit die Angehörigen dieser neuen sozialen Gruppe sich als vollwertiger Teil der Gesellschaft oder als unterprivilegiert beziehungweise ausgeschlossen wahrnehmen“, schreiben Jutta Allmendinger vom Wissenschaftszentrum Berlin und Markus Promberger von der Universität Erlangen-Nürnberg in ihrer 2018 erschienenen Studie zum Prekariat.
Standing pflichtet ihnen bei: „Das Prekariat grenzt sich von den Globalisierungsgewinnern schon jetzt deutlich ab.“ Die sozial Schwachen merken, dass sich die Bessergestellten überlegen fühlen und moralische Standards definieren, an denen sich alle messen lassen sollen: ökologisch, antirassistisch, weltoffen, antisexistisch. Derlei liberale Werte stehen in krassem Gegensatz zu den populistischen Parolen jener Parteien, die es auf die Wählerstimmen des Prekariats abgesehen haben – und die sich seit ein paar Jahren über Zulauf freuen. Bewegungen wie die Gelbwesten in Frankreich oder die Brexit-Befürworter in Großbritannien lassen erahnen, welche soziale Sprengkraft in der neuen Klasse steckt. „Wenn wir nicht jetzt entschieden gegensteuern, entsteht ein politisches Monster“, warnt Standing.
Rücklagen verlieren an Wert
Für den Wirtschaftshistoriker Adam Tooze ist das Monster längst in der Welt. Seit der Finanzkrise von 2007 wütet es überall in den Industriestaaten. Freilich mit ganz unterschiedlichen regionalen Nachwirkungen: „Während die USA dank der progressiven Notenbankpolitik von Ben Bernanke die Krise relativ gut meisterten, indem sofort frisches Geld in den Markt gepumpt wurde, warfen die Europäer die Notenpresse erst an, als es schon zu spät war“, schreibt der ehemalige Yale-Professor in seinem Buch „Crashed: Wie die Finanzkrise die Welt verändert hat“ (2019). Die strikte Sparpolitik der EU, die nicht allein zulasten Südeuropas ging, habe zu einem Ausquetschen der Mittelschicht geführt, so Tooze. Rücklagen verlieren an Wert; Nullzinsen machen es unattraktiver denn je, vom ohnehin mauen Verdienst etwas auf die Seite zu legen.
Eine mögliche Folge: In ein paar Jahren droht den EU-Ländern eine riesige Altersarmutswelle. Kaum jemand ist derzeit dafür gewappnet – erst recht nicht die Angehörigen der unteren Einkommensschichten.
Wenn der Trend zur Beschäftigung von Millionen Menschen im Niedriglohnsektor anhalte, die vornehmlich als Dienstleister für Globalisierungsgewinner arbeiten, werde sich die Lage des Prekariats eher verschlechtern, sagt Branko Milanović, ehemaliger Chefökonom bei der Weltbank und derzeit Wirtschaftsprofessor an der City University in New York. Er schlägt vor, der Mittelschicht künftig mehr Steuererleichterungen zu gewähren. Das vereinfache den Vermögensaufbau und führe letztlich zu mehr sozialer Gerechtigkeit.
„In einigen Ländern, etwa in den skandinavischen, hat sich die Methode bereits gut bewährt“, sagt Milanović. Gleichwohl räumt er ein, dass geringere Steuerlasten für Durchschnittsverdiener nicht ausreichten, um die politische Gefahr eines Rechtsrucks zu kontern. „Ungleichheit hat nicht nur mit dem Vermögen zu tun“, so der Ökonom, „sondern auch mit den Berufschancen.“
Wenn wir nicht jetzt gegensteuern, entsteht ein politisches Monster