Das ist schon ein Kunststück: David Bowie konventionell aussehen zu lassen. 1992 gelang Annie Lennox genau das. Da betrat sie die Bühne des Londoner Wembley-Stadions, um mit Bowie den im Vorjahr verstorbenen Freddie Mercury zu ehren. Zu zweit sangen sie den Song „Under Pressure“, ein Duett voller Pathos und Melancholie. Doch während David Bowie – damals in seiner pastellfarbenen Phase – mit Anzug und Bürstenschnitt ein wenig an einen US-amerikanischen Showmaster erinnerte, verströmte Lennox etwas zutiefst Seltsames. Die Stimme mit dem vibrierenden Timbre ein wenig zu altmodisch für diese Fußballarena, die Augen bis über die Schläfen mit schwarzer Farbe umrandet, wirkte sie wie eine skurrile Superheldin, ein Fantômas im Abendkleid. Seit Beginn ihrer Karriere hatte die Sängerin als extravagant gegolten, als kühle Powerfrau für das Ende des Jahrtausends. Völlig abwegig waren solche Zuschreibungen nicht. Doch wie so oft klaffte auch ein kleiner Graben zwischen Image und Realität.
Tatsächlich war der Aufstieg von Annie Lennox zum Pop-Idol eher unwahrscheinlich. Aufgewachsen in der schottischen Stadt Aberdeen als Tochter eines Hafenarbeiters, verlegte sie sich als Kind auf das Hobby der klassischen Musik. Mit 17 Jahren ging sie an die Royal Academy of Music in London, um Flöte zu studieren. Es sollte aber noch viele Jahre dauern, ehe sie und Dave Stewart, ihr Gegenpart bei der Band Eurythmics, einen Sound fanden, der sie unverwechselbar machte. Bis dahin kellnerte Lennox, verschuldete sich. Der künstlerische Durchbruch gelang schließlich in einer verzweifelten Nacht im Jahr 1982: Lennox, so die Legende, hatte sich auf dem Boden zusammengerollt, drauf und dran, den Traum von der Musik zu begraben. Als Stewart auf dem Synthesizer einen Beat anschlug, sang sie ein paar schattige Gedanken dazu: „Some of them want to use you / Some of them want to get used by you“. Entgegen der allgemeinen Annahme ging es dabei nicht um Dominanzfantasien, sondern um die Widrigkeiten des Musikgeschäfts und des Lebens im Allgemeinen. „Sweet Dreams (Are Made of This)“ war geboren. „Der Song drückte aus, wie ich mich fühlte“, sagte Annie Lennox später einmal. „Hoffnungslos und nihilistisch.“
DÜSTERES DISCO-INFERNO
Offenbar teilten viele die Gefühlslage, Thatcherism und Weltlage sei Dank. Mit Stakkato-Rhythmus und frostigem Gesang wurde „Sweet Dreams“ zum millionenfach verkauften Welterfolg. Viele weitere sollten folgen: von „Who’s That Girl“ (1983) und „Here Comes the Rain Again“ (1984) bis zur süßlichen Ballade „There Must Be an Angel (Playing with My Heart)“ (1985) oder der feministischen Hymne „Sisters Are Doin’ It for Themselves“ (1985), aufgenommen mit Aretha Franklin. Die Ästhetik von Eurythmics wurde zum Synonym für die 1980er, verband Disco-Inferno und stählerne Strenge. In den 1990ern legte Lennox als Solo-Künstlerin nach, wurde noch erfolgreicher, gewann Grammys, Golden Globes und einen Oscar.
Schaut man sich Aufnahmen aus dieser Zeit an, etwa in der ARTE-Dokumentation „Annie Lennox: Popikone mit Engagement“, dann überrascht, welche Themen die Sängerin damals wälzte. Psychische Gesundheit, Celebrity-Kultur, Gender-Rollen: alles schon da. Nicht jeder konnte damit etwas anfangen. Gerade das Aussehen von Lennox, ihre Weigerung, sich nett und niedlich anzuziehen, schien damals für manche schwer zu verkraften. „Ich wollte das Gegenteil vom Klischee einer weiblichen Sängerin sein“, sagte sie einmal. „Ich wollte stark wie ein Mann sein, als gleichwertig wahrgenommen werden.“ Den klassischen Hosenanzugtrick setzte sie buchstäblich um: Mit kupferroter Kurzhaarfrisur und subkulturell angehauchtem Business-Look verkörperte Lennox eine neue, scharfkantige Modernität. Dem Konzept der Prominenz konnte sie dagegen weniger abgewinnen. Das distanzierte Image: vor allem ein Schutzmechanismus, wie sie später erklärte. Entsprechend rar machte sie sich, nachdem Eurythmics getrennte Wege gingen. Inzwischen betätigt sich Lennox, die zweifache Mutter ist und gerade in die Rock and Roll Hall of Fame aufgenommen wurde, öffentlichkeitswirksam als Aktivistin, etwa gegen HIV. Sie sei jetzt zu glücklich, um kathartische Songs zu schreiben, sagte sie vor einigen Jahren. „Elend ist ein guter Katalysator für außergewöhnliche Musik, aber man will es sich auch nicht ständig antun.“ Worte, die aus ihrem Mund fast schon wieder wie Liedmaterial klingen.
Ich wollte das Gegenteil vom Klischee sein