Die Heldinnen und Helden des Fantasy-Genres haben ein Problem. Sie wirken vergleichsweise unscheinbar. Fast so, als gehe es gar nicht um sie. Denn: Ihre Gegner sind meistens viel eindrucksvoller. Egal, ob es sich um Drachen – oft bunt, immer gefürchtet – oder gigantische Oger, Tatzelwürmer oder Hexen handelt. Sauron ist ein drei Meter hoher, unheimlicher Gestaltwandler. Voldemort hat sich selbst aus der Welt der Toten zurückgeholt. Solche Fähigkeiten haben die Helden meist nicht. Im Gegenteil: Oft sind sie ängstlich und wollen gar nicht auf ihre Reise aufbrechen, um die Welt zu retten.
Und doch – oder gerade deswegen – ist das Fantasy-Genre ungebrochen populär. Die HBO-Fernsehserie „Game of Thrones“ gilt als teuerste Serie überhaupt, gewann 47 Emmys und soll zuletzt über 30 Millionen Zuschauer pro Folge gehabt haben. Der Buchmarkt für Fantasy ist riesig – in den Top Ten der meistverkauften Romane aller Zeiten stehen, je nach Zählart, vier bis sechs Fantasy-Klassiker, meist befinden sich „Der Herr der Ringe“, „Der Hobbit“ und „Harry Potter“ gleich unter den ersten fünf. Es gibt Kongresse für Fantasy, im ganzen Land florieren Mittelaltermärkte, auf denen Menschen selbst geschmiedete Kettenhemden und anderes stolz vorstellen. Kurzum: Die archaische Welt der Drachen und Schwerter fasziniert die Massen. Das ist erstaunlich, da sie so gar nicht zur modernen Welt zu passen scheint. Es gibt weder Handys noch Demokratie. Aber eines passt eben doch zur Lebenserfahrung: Die Helden der Fantasy sind normal wie du und ich.
Mehr als 43 Millionen verkaufte Romane
„Ich finde es immer sehr sympathisch und leicht, mich mit Helden zu identifizieren, wenn sie ganz normale Menschen in einer ganz normalen Umwelt sind“, sagt der Schriftsteller Wolfgang Hohlbein in der zweiteiligen ARTE-Dokumentation „Die Geschichte der Fantasy“. „Erst ganz allmählich merkt der Held, dass mit ihm etwas nicht stimmt oder mit seiner Umwelt.“ Hohlbein selbst ist das beste Beispiel für die enorme Popularität des Genres – er zählt zu den erfolgreichsten Autoren Deutschlands und schrieb bislang mehr als 200 Fantasy- und Science-Fiction-Romane, die sich insgesamt rund 43 Millionen Mal verkauften.
Alte Mythen, neue Regeln
Als Urknall der modernen Fantasy gilt die Veröffentlichung von John Ronald Reuel Tolkiens „Der Herr der Ringe“ im Jahr 1954. Es ist ein Werk der Superlative: Etwa 150 Millionen Mal wurde es bereits verkauft und zählt damit zu den erfolgreichsten Büchern des 20. Jahrhunderts. Dabei begleiten die vielen alten Mythen, die in der Geschichte variiert und aufgegriffen werden, die Menschheit eigentlich schon sehr lange. Der britische Philologe Tolkien verstand es nur sehr geschickt, sie zu modernisieren und in eine zusammenhängende Geschichte zu verpacken. Schon Siegfried tötet im Nibelungenlied von 1220 einen Drachen und auch in der Artussage dreht sich alles um die Suche nach einem magischen Gegenstand – dem Heiligen Gral. Die älteste literarische Erwähnung eines Drachens ist gar auf die Zeit um 2600 v. Chr. datiert, sie ist in der in sumerischer Keilschrift verfassten Kes-Tempelhymne zu finden.
Entscheidend ist, dass das neue Genre der Fantasy, das sich ab Mitte des 20. Jahrhunderts herauskristallisiert, den alten Mythen ein paar Elemente hinzufügt. Vor allem ist da der Held: Er bleibt erst noch traditionell männlich, muss aber plötzlich kein Übermensch mehr sein, kein Siegfried und kein Nimrod. Sondern im Gegenteil, der typische Fantasy-Held wird eine besonders durchschnittliche Person. Frodo Beutlin ist ein Hobbit – ein friedliebendes Wesen, das sich vor allem für Gärtnern und Bücher interessiert. Harry Potter? Ein schüchternes Waisenkind, das von seinem Stiefbruder terrorisiert wird. Die Überraschung tritt in das Leben dieser Durchschnittsmenschen und zwingt sie, Helden zu werden. Bei Frodo ist es der Ring, der ihm in die Hände fällt, bei Harry der Brief, der ihn auf die Hogwarts-Schule für Hexerei und Zauberkraft einlädt. Das heimliche Versprechen der Fantasy: Wir alle sind besondere Personen. Denn wenn Langweiler wie Frodo oder Harry über sich hinauswachsen können, kann es jeder. Im Zeitalter der „verwalteten Welt“, wie Theodor W. Adorno den heutigen Kapitalismus nennt, bestimmt von der „Allherrschaft des Organisationsprinzips“, kann sich der Mensch kaum mehr so fühlen, als spiele er eine Rolle. Gleichzeitig möchte die Literatur uns diese Rolle zurückgeben. Die Botschaft der Fantasy: Auch du bist etwas Besonderes!
Bei aller Weltferne – schon immer hat die Fantasy ganz reale politische Ereignisse aufgegriffen. Es fällt leicht, in den brutalen Schlachten von Mittelerde eine Parallele zu den beiden Weltkriegen zu sehen. Am Ersten nahm Tolkien als Fernmeldeoffizier teil. Er sah 1916 die Schlacht an der Somme, die als die „blutigste“ des ganzen Krieges bezeichnet wird. Tolkien selbst leugnete allerdings immer, sich mit seiner Literatur auf das reale Zeitgeschehen zu beziehen. Trotzdem: Wie das Böse in eine eigentlich friedliche Welt hereinbricht, ist natürlich auch das bestimmende Thema von „Der Herr der Ringe“.
Als im Film der 1980er dann ein Fantasy-Held wie „Conan der Barbar“ auftritt, gespielt von dem damals vor allem als Bodybuilder bekannten Arnold Schwarzenegger, wirkt das im ersten Moment etwas aus der Zeit gefallen. Seinen Sinn hat Conan nur in einem Jahrzehnt, in dem der Kalte Krieg seinen Höhepunkt findet und in dem sich die Menschen ganz offensichtlich nach starken Männern und einfachen Verhältnissen sehnen: Ronald Reagan wird Präsident der USA, Helmut Kohl tritt seine langen Jahre als störrischer Machtmensch im Bundeskanzleramt an. Wieder kann man das Politische in der Fiktion erkennen, denn noch immer verkörpert die Heldenfigur wie selbstverständlich: (starke) Männer. So wie Conan, der für das Gute kämpft, ohne Fragen zu stellen, und wie Beutlin und später Potter ist er, trotz aller Muskelkraft, ein einfacher Kerl, Sohn eines Schmiedes. In die ungemütliche Weltgeschichte wird er nur hineingezogen, weil ein böser Schlangenkult sein Dorf überfällt und die Eltern tötet.
Schwache Figuren, voller Zweifel
Der muskelbepackte Haudrauf ist allerdings nur eine Ausprägung in der Fantasy-Heldenwelt. Die 1980er sind auch die Zeit von Michael Endes „Die unendliche Geschichte“: Seine beiden Charaktere Bastian und Atréju sind voller Zweifel und eigentlich schwache Figuren, die erst nach und nach ihre innere Größe entdecken und ausleben. Auch Wolfgang Hohlbein schreibt mit seiner Frau Heike Anfang der 1980er seinen ersten Roman „Märchenmond“ und feiert damit den Durchbruch. Es geht um den Jungen Kim, dessen kleine Schwester ins Koma fällt. Kim ist verzweifelt und fühlt sich machtlos. Erst als er erfährt, dass seine Schwester in einem Märchenland gefangen gehalten wird und er hinreisen kann, um sie retten, schöpft er wieder Kraft. Der Held ist wieder ein Außenseiter, der in der Fantasiewelt sein Heil sucht.
Auch nach dem Ende des Kalten Krieges ändert sich daran wenig. Der große Fantasy-Star der 1990er und 2000er, Harry, ist in der Heldentrias der Reihe sogar der farbloseste. Seine Freundin Hermine fällt als schlagfertige Intellektuelle auf, sein Kumpel Ron bringt den Humor mit. Harry ist eine recht blasse Projektionsfläche. Ein echter Wandel ist dagegen erst in der Fantasy-Serie „Game of Thrones“ zu beobachten, die das weltweite Fernsehpublikum seit 2011 in einen rauschhaften Bann zieht. Die Romanreihe belebte die Soziologie: Es gibt keinen zentralen Helden mehr, dafür viel Chaos. Und: Endlich übernehmen starke Frauen wie die Drachenlady Daenerys Targaryen oder die Heranwachsende Arya Stark das Heldenzepter. Auch in „Horizon Zero Dawn“, einem der erfolgreichsten Fantasy-Videospiele der jüngsten Zeit, führt beispielsweise eine kämpferische Frau als Heldin durch die Geschichte. Dass Fantasy-Autoren heute insgesamt mehr Wert auf Vielfalt legen, beweist ein weiteres Videogame. Während Spiele wie „Final Fantasy“ oder „World of Warcraft“ über Jahrzehnte von klassischen Heldenfiguren geprägt geblieben sind, steuert man in der aktuellen „God of War“-Version den Krieger Kratos, der stets seinen kleinen Sohn bei sich hat. Der Held ist also nicht allein Kampfmaschine, sondern auch ein fürsorglicher Vater.
Eine Konstante bleibt jedoch: Der Kampf ist hart und das Leben voller Unwägbarkeiten. Auch das haben Heldinnen und Helden der Fantasy mit dem modernen Menschen, mit uns allen, gemeinsam.