Autismus ist eine komplexe neurologische Entwicklungsstörung mit sehr unterschiedlichen Ausprägungen. Während einige Menschen hochfunktional sind, benötigen andere intensive Unterstützung. Bislang wurde zwischen Frühkindlichem Autismus, Asperger-Syndrom und Atypischem Autismus unterschieden. Da die Abgrenzung zunehmend schwerer fällt und auch mildere Formen diagnostiziert werden, wird heute der Begriff der Autismus-Spektrum-Störung (ASS) für das gesamte Spektrum autistischer Störungen verwendet. Isabel Dziobek widmet sich der Erforschung und Versorgung von Autismus. Für ein Gespräch mit dem ARTE Magazin hat sie sich aus Berlin zugeschaltet.
ARTE Magazin Frau Dziobek, wie äußert sich Autismus?
Isabel Dziobek Das ist trotz vorgegebener Diagnosekriterien sehr individuell. Vielen Personen mit Autismus fällt es schwer, die Absichten anderer Menschen zu lesen und eigene Gefühle zu kommunizieren, also die Feinabstimmung in der sozialen Interaktion. In der Therapie werden Mittel erlernt, das zu kompensieren, zum Beispiel, indem man sein Gegenüber bittet, Gefühle zu verbalisieren. Die Sprachentwicklung kann bei Autisten verzögert sein, manche zeigen eine repetitive Motorik. Menschen mit Autismus leben oft stark nach Routinen – werden diese nicht eingehalten, kann das Angst oder Frustration auslösen. Auch sensorische oder Sonderinteressen können stark ausgeprägt sein. Es gibt die unterschiedlichsten Konstellationen von Symptomen, oft führen diese dann auch zu Depressionen und Angststörungen.
ARTE Magazin Können Sie Beispiele für auffällige Interessen benennen?
Isabel Dziobek Ich kenne eine Person, die sich ungewöhnlich intensiv mit öffentlichen Verkehrsmitteln in Großstädten beschäftigt, wie dem U-Bahn-System in Rio de Janeiro. Eine andere weiß alles über das Heidelberger Schloss und füllt damit ganze Bücher. Ein Bekannter ist wahnsinnig interessiert an Sukkulenten, und ich kannte ein Kind, das fixiert war auf Metalltrommeln in Waschmaschinen. Es gibt auch Sonderbegabungen – das betrifft aber nur äußerst wenige wie Kim Peek, das Vorbild für den Film „Rain Man“, der Primzahlen ohne Weiteres im Kopf rechnen konnte, oder Stephen Wiltshire, der die Skyline von New York nur aus der Erinnerung zeichnet.
ARTE Magazin Wie kommt es dazu?
Isabel Dziobek Es gibt verschiedene Theorien, etwa dass bei Menschen mit Autismus vor allem die rechte Hemisphäre oder Gedächtnisstrukturen wie der Hippocampus besonders effektiv arbeiten oder dass die Gehirngebiete besonders stark miteinander verbunden sind. Es ist aber schwierig, das sauber zu untersuchen, da Autisten selten die gleichen Sonderbegabungen haben. Insgesamt geht man davon aus, dass Autismus zu großen Anteilen biologische Ursachen hat. Unter den psychischen Diagnosen hat Autismus die größte Erblichkeit – rund 80 bis 90 Prozent sind genetisch bedingt.
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