Die erträumte Wunderstadt

Carlos Ruiz Zafón ist derzeit der meistgelesene Autor Spaniens, dem Gastland der Frankfurter Buchmesse. Seine Barcelona-Romane hat er aus der Ferne geschrieben.

Gasse in Barcelona
Foto: Juan Ordonez

Eigentlich müsste, wer einmal eines der Bücher von ­Carlos Ruiz ­Zafón gelesen und danach Barcelona besucht hat, dem Autor auf ewig gram sein. Was für eine Kluft zwischen Literatur und Realität! Nirgendwo im Buch war schließlich die Rede davon, dass man sich auf den Ramblas inzwischen durch Menschenmassen schieben muss, die gerade aus dem Bauch von Kreuzfahrtschiffen gequollen sind. Nirgends hieß es, dass die ätherische Atmosphäre der Sagrada Família heute von lauten Touristenstimmen erfüllt ist. Nicht mit einem Satz wurde erwähnt, dass die Einheimischen dort so genervt sind von den Besuchern, dass sie bei der Stadtverwaltung durchgesetzt haben, dass Gruppen neuerdings ihr Tempo beibehalten müssen, während sie durch die Altstadt geführt werden: Stehenbleiben verboten!

Natürlich wäre es ein Missverständnis, zu glauben, dass ein Roman ein Reiseführer ist. Schriftsteller haben jede Freiheit, den Handlungsort ihrer Erzählung so zu gestalten, wie es ihnen beliebt. Und doch ist beides im Fall ­Zafón nicht zu trennen: Barcelonas Boom als Touristenmagnet und der Erfolg der Bestseller, die der 2020 verstorbene spanische Autor der Welt hinterlassen hat. In fast 40 Sprachen wurde „Der Schatten des Windes“, der Auftakt zu seiner Barcelona-Tetralogie, übersetzt und insgesamt mehr als 16 Millionen Mal verkauft. Er ist das meistgekaufte spanische Buch nach ­Miguel de ­Cervantes’ „Don ­Quijote“ aus dem Jahr 1605. Rekordzahlen.

Bestseller Barcelona – Die Welt des Carlos Ruiz Zafón

Kulturdoku

Mittwoch, 19.10. — 22.00 Uhr

bis 16.1.23 in der Mediathek

Carlos Ruiz Zafón lehnt an Säule
Hotspot: Mit seinem Roman „Der Friedhof der vergessenen Bücher“ katapultierte Carlos Ruiz Zafón (1964–2020) seine Heimatstadt Barcelona auf die literarische Weltbühne. Heute werfen Autoren oft einen kritischen Blick auf die vom Massentourismus geprägte Metropole. Foto: Toni Albir / picture alliance / dpa

Der Spielplatz seiner Kindheit

Wie eine ARTE-Dokumentation im Oktober zeigt, dürften ­Zafóns Bücher ihrerseits einen nicht unerheblichen Anteil an jenen Rekorden haben, die Barcelona zeitgleich aufstellte: Während die katalanische Hauptstadt 2001, im Erscheinungsjahr von „Der Schatten des Windes“, noch knapp acht Millionen Übernachtungsgäste zählte, kletterten die Zahlen bis 2019 auf mehr als 21 Millionen Übernachtungen. In jenem Jahr, bevor die Corona-­Pandemie dem Tourismus einen Dämpfer versetzte, besichtigten 4,7 Millionen Menschen ­Antoni ­Gaudís unvollendete Kathedrale, die ­Carlos Ruiz ­Zafón einst als den Spielplatz seiner Kindheit bezeichnete. Zum Vergleich: Das Märchenschloss Neuschwanstein verzeichnete im gleichen Jahr 1,4 Millionen Besucher. Barcelona wird zu Tode geliebt.

Und so sind inzwischen diverse Reiseführer auf dem Markt, die einem die Metropole „auf den Spuren von ­Carlos Ruiz ­Zafón“ nahebringen wollen. Sie bilden die logische Schnittmenge zwischen zwei Bestsellern: der Stadt selbst und den Romanen. Doch ­Zafóns Barcelona tatsächlich zu erleben, dürfte schwierig werden. Schließlich existierte ein Gutteil dieser Stadt nur in seinem Kopf. „­Zafóns Barcelona ist eine stilisierte Stadt“, sagt ­Sergi ­Doria, Journalist und Autor eines der fundiertesten Bücher über das Phänomen Carlos Ruiz ­Zafón. ­Doria, der zu den ersten gehörte, die ­Zafóns Werken literarische Relevanz beimaßen, dröselt auf, wie literarische Einflüsse, eigene Erinnerungen und nicht zuletzt das Hollywood-Kino ­Zafóns Barcelona-­Bild überformt haben. „Er liebte den Film noir mit seiner düsteren Atmosphäre, aber auch Comics, die Bücher von ­Stephen King und natürlich ­Charles ­Dickens“, so ­Doria. All das floss in dieses ewig nebelverhangene, zwielichtige Barcelona ein, in dem der Friedhof der vergessenen Bücher liegt.

Der Eingang zu diesem Friedhof, dem Epizentrum der vier Romane, liegt just dort, wo das Licht der Straßenlaternen der prachtvollen Ramblas seine Kraft verliert und man in die obskure Dunkelheit der Seitenstraßen eintaucht. Schon das ein Hinweis darauf, dass der Weg hier von der Realität in die Imagination führt. Ursprung des Bücher-­Friedhofs war wohl ein Erlebnis, das ­Zafón in der Nähe von Los Angeles hatte, wo er ab 1994 lebte: Dort, in der kalifornischen Wüste, besuchte er einmal einen riesigen Hangar, in dem gebrauchte Bücher kiloweise verkauft wurden. Ihm, dem Büchernarren, brach dieser Anblick das Herz – und so versetzte er diesen Friedhof der vergessenen Bücher kurzerhand in die Unterwelt jener imaginierten Stadt namens Barcelona. ­

Zafón hatte in Barcelona Informatik studiert und in der Werbebranche gearbeitet. Aber zum Schreiben inspirierte ihn die Heimat erst, als er sie bereits verlassen hatte. Sein Barcelona ist buchstäblich aus weiter Ferne betrachtet, von Nebel umgeben. Aber das sei doch völlig in Ordnung, sagt ­Sergi ­Doria: So erhalte sich, jenseits des Themenparks, in den sich die reale Stadt verwandelt hat, immerhin noch eine andere, vielleicht bessere Version ihrer selbst. Literatur lädt eben auch dazu ein, der Realität zu entfliehen. Wer sich lieber dem gegenwärtigen Barcelona mit all seinen Untiefen und Abgründen stellen will, dem seien die Bücher der Autorin ­Najat El ­Hachmi oder von Carlos ­Zanón empfohlen.

Er liebte den Film noir mit seiner düsteren Atmosphäre

Sergi Doria, Journalist und Autor