Ein Manifest für die Würde

Regisseur Burhan Qurbani überträgt den Romanklassiker „Berlin Alexanderplatz“ auf die Gegenwart. Er zeigt, wie Geschichten von Flucht und Ankommen heute erzählt werden können.

Filmszene aus Berlin Alexanderplatz: Mann liegt Frau in den Armen
Francis (Welket Bungué) und Sexarbeiterin ­Mieze (Jella ­Haase) als moderne Pietà. Foto: ZDF / ARTE / Stephanie Kulbach

Kurz fühlt er sich unbesiegbar: ­Francis (­Welket ­Bungué), inzwischen ein Dealer, der es nach eigener Wahrnehmung zu etwas gebracht hat, steht im Schlafsaal seines Wohnheims und wirbt Männer als Drogenkuriere an. Er, der sich lange selbst als „ewiger Flüchtling“ bezeichnet hatte, verbittet sich nun diese Zuschreibung. „Schaut mich an“, sagt er zu den Männern, „ich bin hier: schwarz, stark, furchtlos. Ich habe eine teure Jacke an, fahre ein deutsches Auto, habe eine deutsche Freundin. Ich bin der deutsche Traum. Ich bin Deutschland.“ Wie flüchtig dieses Gefühl des Angekommenseins ist, zeigt sich schon wenige Minuten später. Da lacht der Kopf der Drogenbande ­Reinhold (­Albrecht Schuch) Tränen über ­Francis’ Worte: „Ich bin Deutschland. Das ist echt gut.“ Am Abend bringt er seinem Freund einen Anzug mit, bevor sie zu einer Party gehen: Es ist ein Affenkostüm.

Die Verfilmung des Großstadtromans „Berlin Alexander­platz“ von dem deutsch-afghanischen Regisseur ­Burhan ­Qurbani überträgt Alfred Döblins 1929 veröffentlichte Geschichte vom armen Schlucker Franz Biberkopf ins 21. Jahrhundert. Hierfür übernimmt ­Qurbani die Grundzüge des Plots und deutet sie neu. Zentral bleibt die Dreiecksgeschichte zwischen ­Francis, der Prostituierten ­Mieze (­Jella ­Haase) und dem zwielichtigen ­Reinhold. ­Qurbanis Franz ist allerdings nicht nur ein Kleinkrimineller, der erfolglos ein guter Mensch werden möchte, sondern auch ein Geflüchteter aus dem westafrikanischen Staat Guinea-Bissau, der in der Drogenszene der berüchtigen Hasenheide in Berlin-Neukölln strandet.

Berlin Alexanderplatz

Literaturverfilmung

Mittwoch, 9.8. — 20.15 Uhr
bis 6.11. in der Mediathek

„Ich wohne seit über zehn Jahren an diesem gutbürgerlichen Park“, so ­Burhan ­Qurbani im Gespräch mit dem ARTE Magazin „Es gibt das Freilichtkino und den Streichelzoo. Und dazwischen eine Community von vor allem schwarzen Männern, die als Außenseiter gebrandmarkt werden.“ Diesen Menschen möchte der Regisseur mit seinem Film eine Stimme geben: „Wenn man dafür einen Roman wie ,Berlin Alexanderplatz‘ als Folie nimmt, der so ein wichtiger Teil unseres bildungsbürgerlichen Kanons ist, kann niemand einfach wegschauen“, sagt ­Qurbani. Für die Vorbereitung auf den Dreh haben der Regisseur und sein Hauptdarsteller viel Zeit in der Hasenheide verbracht und mit den Menschen vor Ort gesprochen. Außerdem ließ ­Bungué Teile seiner eigenen Migrationsbiografie einfließen – auch seine Familie war in den 1980er Jahren aus Guinea-Bissau nach Portugal geflohen. ­Qurbani sagt: „Er hat sich die Rolle selbst neu gebaut.“

Gemeinsam tasteten sich ­Qurbani und seine Crew ­an den revolutionären Roman des Berliner Armenarztes Döblin heran, der zur sozial und politisch instabilen Zeit der Weimarer Republik spielt. Der Großstadttrubel und die Reizüberflutung werden darin mithilfe von unendlich langen Monologen, Bibelzitaten, Kinderliedern oder Werbeslogans eingefangen. Diese Montagetechnik galt es auf das filmische Erzählen zu übertragen. „Wir standen mit einem Roman da, der ein literarisches Monster ist“, erzählt ­Qurbani lachend. Schließlich sei es jedoch aufgegangen: Die nonlineare Erzählform passte zu dem inneren Chaos des traumatisierten ­Francis.

Burhan Qurbanis Film hat explizit eine politische Botschaft. Das Erste, was jemandem auf der Flucht genommen werde, sei die Würde, unterstreicht der Regisseur: „Wenn man geflüchtet ist, fällt die Selbstverständlichkeit weg, die eigene Sprache zu sprechen und sich frei und natürlich bewegen zu dürfen.“ Als Filmemacher müsse man den Menschen aus der Ukraine, aus Afghanistan oder Syrien genau zuhören, um von den Gefühlen der Fremdheit, aber auch des Ankommens erzählen zu können.
Die neuen Deutschen

Filmszene Berlin Alexanderplatz: Zwei Männer sitzen aneinander gelehnt im Park
Dealer Reinhold (Albrecht Schuch, l.) und ­Francis (­Welket Bungué, r.) im Berliner Park Hasenheide. Foto: ZDF / ARTE / Sommerhaus Filmproduktion

DIE NEUEN DEUTSCHEN

Im Zuge der sogenannten „Flüchtlingskrise“ von 2015 haben der Historiker ­Herfried und die Literaturwissenschaftlerin ­Marina ­Münkler den Begriff „die neuen Deutschen“ geprägt. Sie beschreiben damit, dass künftig nicht mehr die Herkunft bestimmen wird, was als „deutsch“ wahrgenommen wird, sondern ein gemeinsames gesellschaftliches Selbstbild. ­Burhan ­Qurbani lässt diesen Begriff in seinen Film immer wieder einfließen. „Wir sind die neuen Deutschen!“, sagt etwa Berta, eine Transperson, auf einer Party zu ­Francis. „Gemeint ist“, so ­Qurbani, „dass Deutschland sich verändert und immer vielfältiger wird. Das ist eine Bereicherung für uns alle.“

Wir standen mit einem Roman da, der ein literarisches Monster ist

Burhan Qurbani, Regisseur