Bären, Bären, überall Bären. Das Berliner Wahrzeichen ziert Postkarten, Jutebeutel und T-Shirts, die im Eingangsbereich der Berlinale-Zentrale ausliegen. Pünktlich zum 70. Jubiläum im Februar 2020 hat das neue Leitungsduo das Filmfestival übernommen: der Italiener Carlo Chatrian als künstlerischer Direktor und die Niederländerin Mariette Rissenbeek als Geschäftsführerin. In ihren neuen Büroräumen am Potsdamer Platz sprechen die beiden über filmische Meisterwerke, Glamour auf dem roten Teppich und ein neues Verständnis von Kino.
ARTE MAGAZIN Frau Rissenbeek, Herr Chatrian, die Berlinale 2020 ist Ihr erstes gemeinsames Festival. Sind Sie nervös?
Carlo Chatrian Es ist ein bisschen wie beim Sport. Vor einem Spiel ist man aufgeregt und freut sich zugleich darauf. Ich versuche, mich auf Letzteres zu konzentrieren.
Mariette Rissenbeek Wenn ich an den roten Teppich denke, werde ich schon nervös! Aber es geht mir ähnlich wie Carlo. Wir freuen uns darauf, dass es dann endlich losgeht.
Carlo Chatrian Ich liebe dieses Adrenalin!
ARTE MAGAZIN Herr Chatrian, als künstlerischer Direktor suchen Sie die Filme aus, die auf der Berlinale gezeigt werden. Wie viele schauen Sie bis zur Eröffnung?
Carlo Chatrian Es sind über 800 Filme, würde ich sagen.
ARTE MAGAZIN Führen Sie keine Liste?
Carlo Chatrian Ich schreibe eine Art Tagebuch. Das hilft mir dabei, klare Gedanken zu den Filmen zu formulieren. Denn ich muss sie mir ja nicht nur merken, sondern während des Festivals über sie reden können.
ARTE MAGAZIN Besprechen Sie die Filme gemeinsam?
Mariette Rissenbeek Manchmal. Ich kümmere mich mehr um die Budget- und organisatorische Planung, bin im Austausch mit den Berlinale-Initiativen Talents und World Cinema Fund sowie dem Markt. Wenn es um die Filmauswahl geht, arbeitet Carlo eher mit seinem Team zusammen.
ARTE MAGAZIN Wie schnell wissen Sie, ob ein Film auf der Berlinale gezeigt werden sollte?
Carlo Chatrian Meisterwerke zu erkennen, ist sehr einfach. Sie sind aber selten.
ARTE MAGAZIN Woran erkennen Sie ein Meisterwerk?
Carlo Chatrian Ich habe dann das Gefühl, dass ein Film einzigartig ist. „Der schmale Grat“ (1998) von Terrence Malick oder „Hiroshima Mon Amour“ (1959) von Alain Resnais gehören für mich zum Beispiel dazu. Bei diesen Filmen spürte ich sofort, dass sie für immer Teil meines Lebens bleiben würden.
ARTE MAGAZIN Können Sie dieses Gefühl genauer beschreiben?
Carlo Chatrian Es ist sehr persönlich. Würde ich es beschreiben, ginge es verloren.
ARTE MAGAZIN Das heißt, Ihre Filmauswahl basiert auf einem Bauchgefühl?
Carlo Chatrian Natürlich nicht nur. Hinzu kommt die Erfahrung, zu wissen, ob ein Film relevant ist und warum. Zu erkennen, wie das Publikum reagieren wird. Die Auswahl wird am Ende auch nicht nur von mir alleine, sondern von mir und meinem Auswahlkomitee getroffen.
ARTE MAGAZIN Die Schauspielerin Helen Mirren bekommt in diesem Jahr den Goldenen Ehrenbären für ihr Lebenswerk. Was macht sie besonders?
Mariette Rissenbeek Helen Mirren hat eine unglaublich tiefgründige Art und Weise, Rollen zu verkörpern. Ich war direkt begeistert, als Carlo sie vorgeschlagen hat.
Carlo Chatrian Eine der größten Schwierigkeiten in diesem Beruf ist es, die richtigen Rollen auszuwählen. Danach erst kommt die Herausforderung, diese Charaktere gut zu spielen. Helen Mirren schafft beides. Sie vermag es, selbst ihren kleinsten Rollen die größte Bedeutung zu verleihen. Und deshalb repräsentiert sie für mich die Berlinale und das, woran wir glauben.
ARTE MAGAZIN Wie wichtig sind Stars generell für die Berlinale?
Mariette Rissenbeek Bekannte Namen sind ein wichtiges Element für jedes größere Filmfestival. Wir wollen das Publikum und die Presse schließlich neugierig auf unser Programm machen. Oft sind die Darsteller und Regisseure ja der Grund, sich einen Film im Kino anzuschauen.
ARTE MAGAZIN In einem Interview sagten Sie, Herr Chatrian, die Berlinale sei „nicht die Fashion Week“ und „keine Glamour-Maschine“. Es darf also nicht zu viel Glanz sein?
Carlo Chatrian Ich habe überhaupt nichts gegen die Fashion Week. Ich möchte nur, dass es bei uns mehr um die Filme geht und nicht darum, was die Leute tragen. Natürlich gehört Glamour auf dem roten Teppich dazu.
ARTE MAGAZIN Sie haben das „Kulinarische Kino“ abgeschafft, eine beim Publikum sehr beliebte Sektion. Warum?
Carlo Chatrian Für mich sind Essen und Ernährung etwas Fundamentales; etwas, das uns und unsere Kultur definiert. Aber: Ich möchte Filme nicht auf Grundlage eines Überthemas auswählen. Das würde für mich die Prioritäten vertauschen. An erster Stelle stehen die Filme selbst. Darin kann es auch ums Essen gehen, aber eben auch um andere Dinge.
Mariette Rissenbeek Als ich vor Jahren den japanischen Film „Tampopo – Magische Nudeln“ (1985) gesehen habe, bekam ich Heißhunger auf asiatisches Essen. Filme können das auslösen. Auch ganz auf sich alleine gestellt, ohne ein Label.
arte magazin Apropos Essen: Popcorn im Kino – ja oder nein?
Carlo Chatrian Manche Menschen essen Popcorn, weil sie nicht über den Film nachdenken möchten. Andere genießen es zusätzlich zum Genuss des Filmes. Letzteres finde ich gut. Und vielleicht eher während eines Superheldenfilms mit Special Effects als bei einem leisen Autorenfilm …
ARTE MAGAZIN Sollte Kino Spaß machen?
Mariette Rissenbeek Auf jeden Fall. Aber damit meine ich nicht, dass es immer lustig sein muss. Auch einen ernsthaften oder traurigen Film zu sehen, macht Spaß. Solange er mich emotional berührt.
Carlo Chatrian Mir gefallen ruhige Filme mit weiten Einstellungen – das nennt man dann wohl „intellektuellen Spaß“. Aber ich schaue mir auch sehr gerne den neuen „Star Wars“ an.
Wir wollen junge Leute wieder für die Kinoleinwand begeistern
ARTE MAGAZIN Ausschließlich im Kino oder käme auch ein Streamingdienst wie Netflix für Sie infrage?
Carlo Chatrian Im Kino. Aber wissen Sie, heutzutage hat jeder eine andere Vorstellung von „Kino“. Für meinen Sohn sind Streamingdienste völlig normal, ich mag die große Leinwand. Das Ziel eines Filmfestivals muss es deshalb sein, zu zeigen, wie unterschiedlich Filme gemacht werden und wie sie mit dem Publikum über verschiedene Plattformen interagieren. Unterm Strich geht es für mich aber gar nicht so sehr ums Format, sondern darum, eine Erfahrung mit anderen Menschen zu teilen. Und das geht nun mal am besten im Kino und nicht alleine zu Hause vor dem Laptop.
Mariette Rissenbeek Wir überlegen uns gerade ein
Konzept, wie wir die Sektion „Generation“ nutzen können, um junge Zuschauer ganzjährig dafür begeistern zu können, Filme auf der großen Kinoleinwand zu schauen. Denn der Enthusiasmus ist da, er muss nur gefüttert werden.
ARTE MAGAZIN ARTE zeigt anlässlich der Berlinale eine Reihe von Filmen, die im Laufe der Jahre auf dem Festival gezeigt wurden. Haben Sie einen Favoriten?
Carlo Chatrian Die Mischung ist typisch Berlinale: Es gibt einen Autorenfilm wie „Journal d’une femme de chambre“ (2015) von Benoît Jacquot, einen Klassiker wie „Rain Man“ (1988) und exotische Filme – exotisch aufgrund ihrer Herkunft – wie etwa „Die Flügel der Menschen“ (2016) aus Kirgisistan. Dazu kommen einige deutsche Produktionen, was für uns sehr wichtig ist.
Mariette Rissenbeek „Almanya“ (2011) zum Beispiel war damals ein Riesenerfolg. Aber auch der ungarische Film „Körper und Seele“ (2017) hat mich sehr beeindruckt. Er spielt in einem Schlachthaus – als Vegetarierin war es wirklich nicht leicht für mich, ihn anzuschauen!
Carlo Chatrian Oh, das war auch als Nicht-Vegetarier eine Herausforderung. Ein starker Film, der 2017 zu Recht den Goldenen Bären gewonnen hat.
ARTE MAGAZIN Bald verleihen Sie beide die nächsten Bären. Treten Sie dann gemeinsam auf den roten Teppich oder teilen Sie sich auf?
Mariette Rissenbeek Das müssen wir noch besprechen. Begrüßen werden wir die Gäste auf jeden Fall zusammen.
Carlo Chatrian Wir werden als Duo auftreten – und eine Menge Spaß dabei haben.