Stellen Sie sich vor: Es ist stockdunkel, nicht die geringste Lichtquelle. Die Temperatur knapp über dem Gefrierpunkt. Irgendwo tropft es unablässig, aber nie ganz im Rhythmus; aus der Ferne ahnt man das Rauschen von Wasser. Es riecht nach kaltem Stein und nach Karbid mit einer Spur von Ammoniak. Ein Film von Feuchte umhüllt die Haut im Gesicht und wabert durch die schwarze Luft. Wenn Sie morgens aufwachen, dann gibt es keine Tageszeit. Und überhaupt gibt es keinen Tag und keine Nacht, und Ihr Gehirn erinnert sich, dass Sie ungefähr 1.000 Höhenmeter und zehn oder zwölf oder 20 Kilometer Wegstrecke vom Tageslicht entfernt sind.
Willkommen im unwirtlichen, gespenstischen Milieu von Deutschlands längster, tiefster, spektakulärster Höhle, zu finden in den Berchtesgadener Alpen in Bayern. Sie wird „Riesending“ genannt, weil Hermann Sommer – der erste Forscher, der 1996 einen Blick in dieses Höhlensystem werfen konnte – als Ausruf der Begeisterung entfuhr: „Was ist das für ein Riesending!“ Aber wie groß die Riesending-Schachthöhle tatsächlich ist, das lässt sich auch zwei Jahrzehnte später noch immer nicht sagen. Und auch unsere Dokumentation, die ARTE im Januar zeigt, hat dem Berg längst nicht alle Geheimnisse entlocken können.
Die Höhlenforscher Uli Meyer, Thomas Matthalm, Marcus Preißner, Florian Schwarz und Johann Westhauser haben mich und meine Filmcrew mit auf eine unheimliche Reise genommen, die nicht weniger fantastisch ist als jene, die sich Jules Verne vor mehr als 100 Jahren für seinen Roman „20.000 Meilen unter dem Meer“ ausgedacht hatte oder für seine „Reise zum Mittelpunkt der Erde“. Wir erlebten ein Abseilen und Kriechen und Schreiten und Klettern durch eine sagenhafte Welt – und dabei gelangen faszinierende, fremdartige, wunderschöne Aufnahmen.
Wenn man zusieht, wie das Forscherteam in seinem bis in die Tiefe geschleppten aufblasbaren Gummiboot über den größten der unterirdischen Seen gleitet, dann fällt es schwer, nicht an Hades und Styx zu denken. An die unterirdische Schattenwelt jenseits des Grenzflusses zwischen Leben und Tod, in der sich die Angst der Menschen abbildet – vor der Dunkelheit, vor der Tiefe der Erde, vor dem Ende des Lebens. Und vor den Wesen, die die Unterwelt bewohnen. Im Untersberg in den Berchtesgadener Alpen, wo die Riesending-Höhle auf einem Plateau auf fast 2.000 Metern Höhe ihren bisher einzigen bekannten Eingang hat, schlafen außerdem, der Sage nach, gleich zwei deutsche Kaiser: Friedrich Barbarossa und Karl der Große, beide umsorgt und bewacht von Zwergenvölkern. Die Riesending-Forscher sind weder Zwergen begegnet noch dem Fährmann Charon aus der Hades-Mythologie. Aber ihre Expeditionen in die Tiefe sind die vielleicht wildesten Abenteuer, die man in einem völlig vermessenen und organisierten Land wie Deutschland erleben kann.
„Hätte ich früher gelebt“, sagt Uli Meyer, dessen privater Beruf als Professor für Vermessungskunde noch relativ nah an seiner Passion des Höhlenforschens liegt, „dann hätte ich Entdecker werden wollen. Aber das ist heutzutage gar nicht mehr so einfach, weil man mit Google Maps an die entlegensten Orte zoomen kann.“ Und sein Höhlenkamerad Thomas Matthalm, der auch den größten Teil der spektakulären, oft atemberaubenden Untertage-Bilder gedreht hat, findet: „Entdecker wie Magellan haben auch auf ihren Seereisen irgendwann das Land am Horizont versinken sehen. Und dann waren sie auf sich gestellt und es gab nur noch Neues.“
In der Riesending-Höhle finden die fünf Männer, die als Einzige eine Erlaubnis haben, die gefährliche Höhle zu betreten, hinter jeder Wegbiegung etwas Neues. Bis heute. Und die Suche nach dem Ende der Höhle führt erst recht in unbekannte, noch entlegenere Abschnitte, voller Schlamm, Dunkelheit, Kristallwände und Lehmskulpturen.
Das höchste Kliff in der Schachthöhle, wie Geologen die vertikal abfallenden Tunnel nennen, ist höher als der höchste Kirchturm der Welt, das Ulmer Münster. Und an unzähligen Engstellen quetscht man sich zwischen den Felsen hindurch, jeder Klaustrophobie zum Trotz, oder klettert knapp über donnernde Wasserfälle hinweg. Es ist eine Abenteuerwelt, deren Landschaften so schön wie bizarr sind.
Zur Person:
Freddie Röckenhaus, Filmemacher
Der vielfach ausgezeichnete Journalist hat bereits mehr als 50 Dokumenta-tionen für öffentlich-rechtliche Sender realisiert – darunter die Reihe „Russland von oben“ und den Dokumentarfilm „Unsere Wälder“.
Es fällt schwer, nicht an die Unterwelt zu denken