Der Bildschirm ist schwarz, die Verbindung von Berlin nach New York leider nicht stabil genug für einen Video-Anruf. Schade. Spätestens seit ihrem wohl bekanntesten Projekt „The Artist Is Present“ im New Yorker Museum of Modern Art möchte man der Performance-Künstlerin Marina Abramović doch mindestens einmal im Leben gegenübersitzen. Sei es auch nur digital. Drei Monate lang, sechs Tage die Woche, sieben Stunden am Tag saß sie im Jahr 2010 auf einem Stuhl und bewegte die Museumsbesucher zutiefst, die vor ihr Platz nahmen. Einige erzählten später von einer lebensverändernden Begegnung, vom Blick in die Seele, erklärten sie zu ihrem Guru. Gesprochen wurde damals nicht. Heute schon, immerhin. Und obwohl Marina Abramović im Dunkeln verborgen bleibt: Ihre raue Stimme und ihr serbischer Akzent sind unverkennbar. Was sie davon hält, als Guru bezeichnet zu werden? „Wissen Sie, Joseph Beuys wurde Schamane genannt und hat sich nie dagegen gewehrt. Ich wehre mich. Ich habe Schamanen und Gurus getroffen, diese verändern Leben. Ich sorge mit meiner Arbeit nur für Bewusstsein.“ Und für so einige Schockmomente, möchte man hinzufügen. Früher zumindest.
Freiheit durch Schmerz
Bekannt wird die heute knapp 73-Jährige, als sie sich in den 1970ern mit Messern in die Hand sticht („Rhythm 10“, 1973), sich einen Stern in den Bauch ritzt („Lips of Thomas“, 1975) oder sich so bestialisch die langen schwarzen Haare bürstet („Art must be beautiful, Artist must be beautiful“, 1975), bis sie vor Schmerzen kaum noch sprechen kann. Als sie bei einem Auftritt ohnmächtig wird und fast stirbt, integriert sie den Kontrollverlust über ihren Körper bewusst in ihre nächste Performance. Viele Projekte entstehen mit ihrem früheren langjährigen Partner, dem deutschen Künstler Frank Uwe Laysiepen alias Ulay: Stundenlang schreien sie einander an („AAA–AAA“, 1977) oder verharren Rücken an Rücken, an den Haaren zusammengebunden („Relation in Time“, 1977).
Marina Abramović geht immer bis zum Äußersten. Und darüber hinaus. Auf den Vorwurf, sie sei eine Masochistin, reagiert sie 1974 mit „Rhythm 0“: Sie legt eine Auswahl an Instrumenten bereit – Messer, Scheren, eine geladene Pistole – und erlaubt dem Publikum, mit ihr zu machen, was es möchte. Sie selbst wird zum Objekt. Wieder verliert sie beinahe ihr Leben. „Ich war eine ziemlich verrückte junge Frau“, sagt sie rückblickend. „Wir alle haben so große Angst vor dem Tod, vor Schmerzen. Für mich war der einzige Weg, keine Angst zu haben, den Schmerz herauszufordern, ihn zu überwinden und mich von ihm zu befreien.“ Schmerzen als Türe zur inneren Freiheit? Für Marina Abramović der richtige Weg: „Ich habe heute ein freundschaftliches Verhältnis zur Sterblichkeit.“
Dass ihre Performances im Laufe der Zeit immer länger werden, ist kein Zufall. „Machst du etwas für drei Stunden, kannst du schauspielern“, sagt sie. „Machst du es für drei Monate, kannst du nicht mehr so tun als ob. Du wirst zu deinem wahren Selbst.“ Eine Herausforderung für jeden in der heutigen Zeit. Denn „die Technik hat uns zu emotionalen Invaliden gemacht“, sagt sie. Um Menschen beim „Blick nach innen“ behilflich zu sein, abseits von Zeitdruck und Dauerberieselung, entwickelte sie die sogenannte Abramović-Methode: Übungen, die sie im Laufe ihres Lebens in fernöstlichen Kulturen kennengelernt hat. In Workshops tauschen Teilnehmer Handys und Uhren gegen geräuschschluckende Kopfhörer, zählen Reiskörner, schauen sich lange in die Augen, gehen im Zeitlupentempo, schweigen. Im ARTE-Film „Marina Abramović – Die Kunst des Hörens“ bereitet sie auf diese Weise Konzertbesucher in der Alten Oper Frankfurt auf ein klassisches Konzert vor. Das Motto: „Hören lernen durch Stille.“ Um so sich selbst und die Musik bewusster wahrzunehmen.
In Zeiten, in denen Achtsamkeit stark im Trend liegt, genießt Marina Abramović mit ihrer Arbeit große Beachtung. Aber sie polarisiert auch: Immer wieder werfen ihr Kritiker vor, ihre Kunst sei längst zu einer Marke verkommen, sie selbst zu profitorientiert. Marina Abramović sieht das anders – sie wirkt sogar stolz: „Ich bin mittlerweile echter Mainstream, hätte nicht gedacht, dass ich mal von meiner Kunst leben kann.“ Apropos „ihre“ Kunst: Ihr Ex-Partner Ulay sieht das anders. Er warf ihr vor, gemeinsame Ideen als ihre eigenen ausgegeben zu haben. 2016 musste sie deswegen 250.000 Euro an ihn zahlen. 2017 folgte die Versöhnung.
Am Marina Abramović Institute unterrichtet sie angehende Künstler, kümmert sich so um die Erhaltung ihrer Performance-Kunst. Außerdem experimentiert sie gerade mit Augmented Reality: Durch eine Brille sehen Zuschauer ihre reale Umgebung, in die Marina Abramović hineinprojiziert wird. „Wir sind alle sterblich“, sagt sie. „So kann diese Energie zwischen mir und dem Publikum für immer erhalten bleiben.“
Plötzlich ist sie da, auf dem Bildschirm. Ihre langen Haare wie immer pechschwarz, knallrote Lippen und dazu passend eine rote Brille. Sie winkt und lacht. „Sind Sie sicher, dass Sie kein Guru sind? Bewusstsein kann Menschen doch auch zutiefst verändern.“ – „Ich bin Künstlerin“, sagt sie. Na gut. Widerspruch scheint zwecklos. Vor allem, wenn Marina Abramović einem direkt gegenübersitzt. Sei es auch nur digital.