Er ist nicht zu stoppen, er wächst immer weiter, er wird dich lebendig verspeisen: der Blob! Als der junge Steve McQueen im Science-Fiction-Film „Blob – Schrecken ohne Namen“ 1958 vor dem schleimigen, menschenfressenden Ungeheuer warnt, ahnt noch niemand, dass ein ähnliches Wesen 61 Jahre später im Parc zoologique de Paris in einem Terrarium zu einer kleinen Sensation wird. Physarum polycephalum heißt das Etwas, das weder Pflanze, Tier noch Pilz ist. Und auch wenn er bisher keinen Menschen verspeist hat, gleicht der Blob seinem filmischen Namensgeber in Wachstum und Verhalten verblüffend – und scheint sogar klüger als seine Filmvorlage.
Doch Angst zu haben braucht deswegen niemand, versichert Audrey Dussutour. Die Mitautorin der ARTE-Doku „Der Blob“ forscht seit mehr als zehn Jahren am Centre national de la recherche scientifique (CNRS) in Toulouse über Physarum polycephalum. Inzwischen hat die Verhaltensbiologin eine Sympathie für das kleine gelbe Geschöpf entwickelt, das gern Haferflocken und Pilze frisst.
Seit fast einer Milliarde Jahren besiedelt Physarum polycephalum schon die Erde, als Einzeller gehört es zu den ältesten und einfachsten Lebensformen überhaupt. Heute lebt es bevorzugt in der gemäßigten Zone, also in den Nadel-, Misch- und Laubwäldern dieser Erde, auf feuchtem Holz. Eine Spenderzelle kann ihre Gene über 720 Varianten auf eine Empfängerzelle übertragen – laut Wissenschaft hat ein Blob demnach 720 Geschlechter. Da er sich über mehrere Quadratmeter ausdehnen kann, schaffte er es als größte lebende Zelle ins Guinnessbuch der Rekorde. Ein Blob hat weder Augen noch Mund, Magen oder Beine und kann trotzdem sehen, schmecken, verdauen und sich fortbewegen: Einen Zentimeter kommt er pro Stunde voran – ist er hungrig, schafft er sogar vier Zentimeter.
Blickt man auf die Forschungsgeschichte des Blobs, könnte man fast Mitleid mit dem armen Ding haben, denn: „Die Botaniker meinten, die Zoologen müssten ihn erforschen, die Zoologen dachten dasselbe von den Botanikern“, sagt Dussutour. Nachdem sich Wissenschaftler lange nicht einig waren, welchem Fachgebiet Physarum polycephalum zuzuordnen sei, führte es ein Leben am Rande der Disziplinen. Im 19. Jahrhundert war erstmals von einem „Pilztier“ die Rede, im 20. Jahrhundert sprach man von Myxomyceten, sogenannten Echten Schleimpilzen. Ein irreführender Begriff, denn damit ist eben nicht der Pilz gemeint, sondern ein einzelliger Organismus, von denen Physarum polycephalum nur eine Art ist. Erst 2015 wurde sein Genom vollständig entschlüsselt.
Der Blob und die Weltherrschaft
Dank Audrey Dussutour und weiteren Forschern, etwa Toshiyuki Nakagaki aus Japan, wissen wir heute, dass der Blob mühelos den kürzesten Weg durch ein Labyrinth findet, dass er sich Dinge merken kann, ohne ein Gehirn zu besitzen, und dass sich ein amerikanischer Blob in seinem Nahrungsverhalten stark von einem französischen Exemplar unterscheidet: „Weil der amerikanische Blob unsere Bio-Haferflocken nicht mochte, haute er einfach aus der Petrischale ab und machte sich über die Flocken einer amerikanischen Marke her!“, erzählt Dussutour. Überhaupt steht das Fressen im Mittelpunkt eines Blob-Lebens; er bevorzugt aber vegetarische Speisen und ist allein damit schon recht liebenswert und wenig beängstigend.
Und nicht nur das: „Physarum polycephalum ist ein Ernährungsgenie“, sagt Dussutour. Bekommt es mehrere Speisen angeboten, entscheidet es sich stets für seine optimalen Bedürfnisse. Im Gegensatz zum Menschen, der oft dem Appetit nachgibt, obwohl er satt ist, „weiß sich der Blob in der Regel zu beherrschen“.
Übrigens vergrößert sich der Blob mit seinen Mahlzeiten stetig – erinnert das nicht doch an den Horror-Blob aus dem Kino? Ob der Schleimpilz wohl die Weltherrschaft an sich reißen könnte? In Vorträgen lächelt Dussutour bei Fragen dieser Art und erzählt vom größten Feind des Blobs: der Nacktschnecke, die das schleimige Ding liebend gern verspeist. Der natürliche Kreislauf des Lebens eben, irgendwie beruhigend.
Inzwischen und spätestens mit der medienwirksamen Ausstellung im Pariser Zoo steigt das Interesse an der Erforschung des Blobs, nicht zuletzt, weil sich aus seinem Verständnis Wirkweisen von Tumorzellen ableiten lassen. Dussutour ist zufrieden, dass sich die Wissenschaft vermehrt „ihrem“ Blob widmet, und sagt: „Ich gehe davon aus, dass es da draußen noch Tausende Arten des Blobs zu entdecken gibt.“
»Über Nacht haute der Blob aus seiner Petrischale ab!«