Ein großer, ungewöhnlich wuscheliger Hund rennt um die Ecke und schnuppert am Straßenrand. Er schaut wartend hinter sich. Als kurze Zeit später ein Mann in die kleine Seitenstraße im Berliner Stadtteil Schöneberg biegt, läuft er weiter. Geradewegs auf das vereinbarte Café zu. „Das ist meine Rüdin Peppina“, sagt Ulrich Tukur zur Begrüßung. Er nennt sie so, da sie „immer allen Rüden zeigt, wo’s lang geht“. Er trägt eine weite, knöchellange Stoffhose im Stil der späten 1920er Jahre, ein dunkelgrünes Hemd, dazu schwarze Lederstiefel und einen grünen Stoffrucksack. Zu seinem Cappuccino bestellt er sich – sehr zeitgemäß – ein Stück veganen Orangen-Bananen-Apfel-Nusskuchen. „Sind Sie etwa Veganer?“ – „Neee.“
Ulrich Tukur zählt zu den bedeutendsten Darstellern seiner Generation. Zu seinen bekanntesten Filmen gehören „Die weiße Rose“ (1982) und „Das Leben der Anderen“ (2006). Und auch als „Tatort“-Kommissar Felix Murot ermittelt er seit zehn Jahren. Mit seiner Band „Ulrich Tukur & Die Rhythmus Boys“ spielt und singt er Lieder vom Anfang des vorigen Jahrhunderts. Und er hat noch einen dritten Beruf: Schriftsteller. Nach einer Novelle und Geschichten aus seinem langjährigen Wohnort Venedig hat er jetzt seinen ersten Roman geschrieben: „Der Ursprung der Welt“.
Doch statt direkt über sein neues Buch zu sprechen, schwärmt der 62-Jährige von einem Schelllackplattenspieler, den er kürzlich in einem kleinen Laden entdeckt hat; fragt, was denn ein Podcast sei („Das ist eine Welt, mit der ich nichts zu tun habe“), und sinniert über die heutige Überflussgesellschaft: „Es ist im Wesentlichen so, wie Goethe es sagte: ‚Getretener Quark wird breit, nicht stark.‘“ Immer wieder spazieren Kleinkinder vorbei zum Spielplatz nebenan. „Unsere Zukunft, hallo!“, ruft Ulrich Tukur ihnen zu. Rüdin Peppina stellt er ihnen als wildes Tier vor. „Schaut mal, ein marokkanischer Zwerglöwe! Wiedersehen!“
Man ahnt es schon. Eine Verabredung mit Ulrich Tukur ist kein gewöhnlicher Interviewtermin. Aus einer geplanten Stunde werden vier. Kuchen wird geteilt, Zitronenwasser geschlürft, durch den Kiez geschlendert und sogar seine neue Berliner Wohnung besichtigt, in die der Schauspieler Anfang 2020 gemeinsam mit seiner Frau ziehen wird. Das Einzige, das an diesem Tag schnell vom Tisch ist: Ulrich Tukurs veganer Kuchen, den er noch vor der ersten Interviewfrage verputzt hat.
Herr Tukur, sind Sie eigentlich ein Genussmensch?
Ulrich Tukur Oh ja, ich genieße das Genießen. Ich liebe es, essen zu gehen. Ich liebe guten Wein. Am schönsten ist die Vorfreude auf ein tolles Restaurant, das man noch nicht kennt. Ich bin ein leidenschaftlicher Leser von Speisekarten. Ich könnte den lieben langen Tag von Lokal zu Lokal laufen, die Speisekarten studieren und mir vorstellen, was ich dann auf den Tisch bekomme.
Das passt nicht gerade zum heutigen Selbstoptimierungswahn, Verzicht hier, Diäten dort …
Ulrich Tukur Schrecklich finde ich das. Das ist Ausdruck einer dekadenten Gesellschaft, in der Menschen wenig mit sich anzufangen wissen und sich Maßstäbe setzen, die überhaupt keinen Sinn machen. Ich glaube aber, das wird genauso schnell verschwinden, wie es gekommen ist.
Wie kommen Sie darauf?
Ulrich Tukur Bleiben wird die Liebe zum Essen. Das ist nun mal das Benzin für unseren Motor. Wir brauchen es. Und wenn es gut gemacht ist, ist es eben auch Manna für die Seele.
20 Jahre lang haben Sie das Leben in Italien genossen, warum ziehen Sie jetzt nach Berlin?
Ulrich Tukur Weil es einfach zu viel wurde. Meine Frau und ich wohnen in der Toskana, in Venedig und in Lugano. Wir haben uns am Ende total zerfleddert. Die Rückkehr nach Deutschland ist der Versuch einer Reduktion. Nur unser bäuerliches Anwesen in der Toskana wollen wir behalten.
Wird Ihnen Venedig nicht fehlen?
Ulrich Tukur Ich vermisse die Stadt jetzt schon. Aber alles hat seine Zeit. Venedig ist ein Bühnenbild, das Sie bespielen müssen. Sie müssen die Stadt malen, sie fotografieren, sie beschreiben, sie besingen. Sie müssen Ihr Stück auf diesem Bühnenbild spielen. Sonst ist die Stadt nichts als ein Haufen toter Steine. Und das habe ich gemacht: Ich habe dort angefangen zu schreiben. Leider macht die elende Globalisierung, der Massentourismus keinen Halt vor dieser einzigartigen Schönheit. Es ist eine Katastrophe.
Was gefällt Ihnen an Berlin?
Ulrich Tukur Sie finden überall Verrückte, die Dinge anders machen; Kneipen und Läden, die Sie in keiner anderen deutschen Stadt mehr finden, kuriose Inseln der Vergangenheit. Ich will weg von diesem Mainstream, von dem, was die Industrie uns Menschen aufoktroyiert.
Haben Sie eine Heimat?
Ulrich Tukur Nein. Nicht geografisch. Ich bin an vielen Orten aufgewachsen. Aber in mir flüstern die Generationen meiner Eltern, und die kommen fast alle aus Süddeutschland. Ich spüre eine seltsame Art von Vertrautheit, wenn ich auf der Schwäbischen Alb bin. Von dort stammen meine Altvorderen. Und es gibt auch einige Vertreter der schwäbischen Romantik in meiner Familie, Gustav Schwab zum Beispiel. Mit dieser Literatur bin ich groß geworden. Das macht meine DNA aus.
Sie machen Musik aus den 1920er und 1930er Jahren und haben als Schauspieler viele historische Figuren verkörpert. Die Faszination für die Vergangenheit scheint sich durch Ihr gesamtes Schaffen zu ziehen.
Ulrich Tukur Die Zukunft interessiert mich nicht; ich bestehe aus vielen Vergangenheiten, die meine Gegenwart definieren. In der Musik geht es mir darum, eine Unterhaltungskultur, die sehr elegant und originell war, am Leben zu erhalten. Nicht, indem ich sie nachahme – ich jongliere damit und versuche, sie zu erneuern. Die Tanzorchester der 1920er und 1930er Jahre waren einfach großartig, die Musik ist komplex, die Texte sind witzig. Das alles hat eine bezaubernde Leichtigkeit.
Und worum geht es Ihnen bei Ihren Rollen?
Ulrich Tukur Um Brüche, um Abgründe. An den historischen Figuren interessiert mich, wie Menschen mit den Herausforderungen ihrer Zeit umgegangen sind. Woran scheiterten sie? Welche Siege trugen sie davon? Und was kann ich daraus lernen? Es ist doch etwas völlig Irres, aus wie viel „Gewesenem“ wir bestehen. Deshalb ist mir diese Verwurzelung so wichtig. Was wären wir ohne Vergangenheit? Gar nichts.
War früher alles besser?
Ulrich Tukur Sicher nicht. Trotzdem ist die Welt, in die ich hineingeboren wurde, nicht die meine, von Anfang an nicht. Ich stand immer daneben. Natürlich war sie früher auch nicht so, wie ich sie mir vorstelle. Ich baue mir meine eigenen Zwanzigerjahre. Vieles ist heute besser, die medizinische Versorgung etwa. Aber was freue ich mich, wenn ich mal eine Frau sehe, die ein schönes Kleid trägt! Oder einen Mann im Anzug. Körperverstümmelung und Massentätowierung sind für mich Zeichen dafür, dass Menschen sich spüren möchten in einer Gesellschaft, die ihnen nichts mehr bedeutet. 75 Jahre Frieden und Wohlleben haben ihren Preis.
Was wären wir ohne die Vergangenheit? Gar nichts
In Ihrem neuen Roman „Der Ursprung der Welt“ entwickeln Sie eine Dystopie: Frankreich ist 2033 zum Überwachungsstaat geworden, Deutschland steht am Rande eines Bürgerkriegs.
Ulrich Tukur Es ist eine Dystopie, aber auch eine Fantasie. Ich zeige, wo es hingehen könnte. Zugleich ist es mein Versuch, die bösen Geister zu bannen. Indem ich es beschreibe, hoffe ich, dass es so nicht passiert.
Der Protagonist des Romans wandelt – wie Sie selbst – auf den Spuren seiner Vergangenheit.
Ulrich Tukur Er findet ein uraltes Fotoalbum mit Bildern, die ihn scheinbar selbst zeigen, und begibt sich auf die Suche nach dem, der er vielleicht mal war. Wie ich selbst ist er ein Mensch, der nicht andockt an seine Zeit, an die Familie, in der er groß wird. Allerdings merkt er bald, dass auch diese vergangene Welt, die ihm so viel reicher erscheint, keinen Halt bietet und ihm den Boden unter den Füßen wegreißt. Es ist eine Reise ins Innere seiner Seele und in den Abgrund menschlicher Geschichte.
Ging es auch darum, Parallelen zwischen den politischen Tendenzen heute und dem Anfang des vergangenen Jahrhunderts zu ziehen?
Ulrich Tukur Mich beunruhigen der Totalitarismus, der sich in China und Russland etabliert hat und nun in vielen osteuropäischen Staaten wieder sein Haupt erhebt, und die unglaublichen technischen Möglichkeiten der Kontrolle und Manipulation. Diese Maschinenparks, die viel stärker sind als wir. Das wollte ich ins spiegelbildliche Verhältnis zu dem setzen, was während des Zweiten Weltkriegs passiert ist. Damals hatten wir in Deutschland auch ein totalitäres System – und waren technologisch sehr weit vorne.
Ganz schön düstere Aussichten.
Ulrich Tukur Es steckt aber auch Sehnsucht und Hoffnung in meinem Buch. Es gibt eine Liebesgeschichte, sie ist wie ein Leuchtfeuer im Dunkeln: dass man über Liebe und Zuneigung die Nacht überwindet. Sie sehen, man kann das Spiel also auch gewinnen, man muss nicht untergehen. Aber man muss achtgeben und kämpfen.
Der Regisseur Costa-Gavras verglich Sie kürzlich mit einer Stradivari – wie kriegen Sie diesen Klang hin?
Ulrich Tukur Das ist zwar schmeichelhaft, aber nicht richtig.
Es muss doch etwas dran sein.
Ulrich Tukur Das ist wie mit meinem Buch. Ich weiß nicht, wie ich das gemacht habe. Ich bekam einen Vorschuss, den ich schnell ausgab. Mir war klar, dass ich nicht weiß, wie man einen Roman schreibt. Ich hatte keine Ahnung von literarischen Strukturen. Und war mir sicher, dass ich diesen Vorschuss würde zurückzahlen müssen. Und dann ergab doch eins das andere. Ein bisschen Recherche, viel Erinnerung und drei Jahre Bastelarbeit.
Und Ihr Erfolgsrezept vor der Kamera?
Ulrich Tukur Man muss sich Zeit lassen. Das hat mir Peter Zadek beigebracht. Er sagte: „Schau doch mal deinem Partner in die Augen! Dann weißt du, wie du diese Figur spielen musst.“ Und es stimmt, der Text erfährt einen Impuls und füllt sich plötzlich mit etwas, das ganz eigen und authentisch ist. Diese Fähigkeit, auf sich zu warten und einen solchen Impuls zu generieren, das ist dann vielleicht Talent.
Sie sagten einmal, Sie seien ständig von etwas getrieben und kämen nur auf der Bühne zur Ruhe. Wird Ihre innere Unruhe nicht weniger, je älter Sie werden?
Ulrich Tukur Sie ist stärker geworden. Von Altersweisheit keine Spur. Das hohe Tempo ist in mein System übergegangen, das ist gar nicht gut. Es bratzelt in mir. Ich habe seit Jahren einen Tinnitus. Wenn es ruhig ist, brummt mir der Kopf. Nur vor der Kamera oder am Klavier komme ich runter.
Werden Sie nie müde?
Ulrich Tukur Wenn ich nichts tue, werde ich todmüde. Wenn ich arbeite, bin ich voller Adrenalin und merke es nicht.
Ein Plan fürs Alter ist das aber nicht, oder?
Ulrich Tukur Johannes Heesters konnten Sie mit 105 noch auf die Bühne setzen. Ansonsten saß er still in der Ecke und redete kaum noch. Warum? Weil auf der Bühne die Hormone wieder in Wallung gerieten.
Und das wollen Sie auch?
Ulrich Tukur Ich möchte immer irgendwas tun. Vielleicht etwas, das körperlich weniger anstrengt, aber mich dennoch fordert. Bloß keine Ruhe.
Dann ist das Schreiben vielleicht Ihre Rettung.
Ulrich Tukur Das kann gut sein. Ich habe schon wieder einen Vorschuss bekommen.