Wenn es um die deutsche Geschichte ging, hatte Onkel Karl immer ein passendes Buch zur Hand. Sein Spezialgebiet: der Nationalsozialismus. Die Bände zu dem Thema füllten Dutzende Regalmeter. Freilich bestand die imposante Bibliothek nicht aus Werken bekannter Historiker. Onkel Karl interessierte sich vielmehr für die Bücher jener Autoren, die das sogenannte Dritte Reich selbst erlebt und mitgestaltet hatten. Wie er, damals als Soldat im Führerbunker.
Das „Ende in Berlin“, so nannte er die Niederlage Nazideutschlands stets griesgrämig, lag zwar schon 30 Jahre zurück, und die Hoffnung auf den „Endsieg“ hatte er längst aufgegeben. Nachfolgenden Generationen wollte er aber doch aus erster Hand berichten, dass „Hitler gar nicht so schlimm“ und der „Holocaust bloß eine Erfindung der Siegermächte“ war. Andernorts hatte die Entnazifizierung wohl gewirkt – nur nicht bei Onkel Karl, dem Ewiggestrigen.
Mitte der 1970er Jahre verbrachte ich viele Nachmittage bei ihm und seiner Frau Magda. Weil es die beiden, selbst Kettenraucher, nicht störte, dass ich paffte. Und weil im Unterricht gerade die Nazis dran waren. Ich hatte die „Geschichte der Luftwaffe im Zweiten Weltkrieg“ als Referatsthema gewählt. Onkel Karl kannte sie in- und auswendig. Zumindest jene Version, die den „heldenhaften Kampf der Piloten“ rühmte, die „trotz fliegerischen Könnens nur verloren hatten, weil ihnen der Sprit ausging“. Eifrig diktierte er mir den Text – für mehr als fünf Punkte reichte es nicht.
Ob es eine bessere Note geworden wäre, wenn statt Karl mein anderer Onkel souffliert hätte? Artur war von 1937 bis 1941 hochdekorierter Pilot bei der Luftwaffe, hatte Guernica, polnische und englische Städte in Schutt und Asche gelegt und zwei Fluchtversuche aus britischer Gefangenschaft unternommen, um „wieder für das Reich fliegen“ zu können. Ebenso wie für Karl, den Bürokraten, war es für Artur, den Bomberpiloten, wichtig, nach dem Untergang des NS-Staates geeignete Anekdoten zu kolportieren, mit denen er die Vergangenheit reinwaschen wollte. Stets erzählte er von der „Ritterlichkeit des Luftkampfs“ und vom „Korpsgeist der Kameraden“, sparte aber geflissentlich alles aus, was mit den Schrecken des Krieges oder dem Holocaust zu tun hatte. Opfer hatten in seinen Geschichten nur die Deutschen gebracht.
Mär vom friedliebenden Führer
Nicht bloß in meiner Familie gehörte derlei Geschichtsklitterung zum Alltag. Zwar widerlegten Historiker wie Daniel Goldhagen („Hitlers willige Vollstrecker“, 1996) und Hannes Heer (Wehrmachtsausstellungen, 1995–1999, 2001–2004) die These, die meisten Deutschen hätten von den Nazigräueln nichts gewusst. In vielen Familien aber geisterte die Mär vom Autobahnen stiftenden, im Grunde friedliebenden Führer weiterhin ungestört und bisweilen gern gehört durch deutsche Wohnzimmer.
Meine Mutter bildet dabei keine Ausnahme. Noch heute schwelgt sie gelegentlich in Erinnerungen an ihre Zeit in der Nazi-Kaderschmiede Bund Deutscher Mädel (BDM), wo sie „gelernt hatte, was es bedeutet, eine deutsche Frau zu sein“. Einige der im BDM propagierten, fragwürdigen Ideale sublimierten später in der Erziehung meiner Schwester, die sich zeitlebens nicht davon befreien konnte und bei der Auswahl ihrer Lebenspartner stets auf deren „nationale Gesinnung“ achtete.
Familienplanung im rechten Milieu
Solche Erziehungsinhalte waren in den 1960er und 1970er Jahren in der Bundesrepublik nicht unüblich. Ihre Sprengkraft wurde aber lange Zeit unterschätzt. Heute greifen Eltern aus dem neurechten Milieu wieder darauf zurück, die ihre Sprösslinge nach nationalsozialistischen Idealen erziehen wollen.
Offizielle Statistiken zur Verbreitung der völkischen Brutpflege gibt es nicht. Dem Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV) liegen derzeit keine Angaben vor, wie viele Eltern sie praktizieren. Inzwischen hat die Bundesregierung immerhin erkannt, dass die rechtsextreme Parallelwelt am Rand der Gesellschaft stärker beobachtet werden muss. Das BfV soll dafür Hunderte neue Stellen schaffen – angesichts der jüngsten rechtsterroristischen Anschläge von Halle und Kassel eine längst überfällige Maßnahme.
Beobachter der Szene warnen seit geraumer Zeit vor sich festigenden Strukturen: „Früher hieß es, Rechtsradikale stiegen meist aus, wenn sie eine Familie gründeten. Heute gibt es zunehmend Paare, bei denen beide Partner rechtsextrem sind und ihre Kinder entsprechend erziehen“, sagt die Publizistin Simone Rafael, Leiterin des auf Extremismus spezialisierten Portals Belltower.News. „Passend zum biologischen Rassismus in der nazistischen Ideologie, das eigene Volk erhalten zu wollen, beginnen viele Neonazis früh mit dem Kinderkriegen und haben relativ große Familien.“
Was hinter deren Türen vorgeht, ergründet der Dokumentarfilm „Kleine Germanen“ von Mohammad Farokhmanesh und Frank Geiger, den ARTE im November zeigt. Demnach werden die Kinder unterschiedlich stark vereinnahmt: Manche spielen zu Hause mit Hakenkreuzflaggen oder backen Runenkekse. Andere werden zu Pegida-Demonstrationen mitgeschleift, um „Wir sind das Volk“ zu krakelen. Einige fallen in der Kita auf, weil sie auf Kinder mit dunkler Hautfarbe aggressiv reagieren. Viele bleiben indes unter dem Radar, da die Eltern ihnen eintrichtern, ihre Gesinnung nicht zur Schau zu stellen.
Um Kita-Personal in solchen Fällen zu unterstützen, bot die Amadeo Antonio Stiftung 2018 eine Broschüre mit Tipps für den Alltag an. Die Reaktion folgte prompt: Binnen eines Tages erhielt die Stiftung Hunderte von Drohanrufen und Hass-Mails. Die meisten kamen eindeutig von rechts.