BRIEFKOLUMNE

BEGRÜßUNG Kaum ist die Brieffreundschaft besiegelt, denkt unser Autorenpaar schon ans erste Treffen. Küssen oder Händeschütteln, Siezen oder Duzen?

Illustration: Uli Knörzer

Cher Dirk Gieselmann,

die ersten Briefe sind geschrieben und ich stelle mir nun vor, wir würden uns bald persönlich begegnen. Womöglich in einem Café. Zur Begrüßung würde ich Ihnen meine Wange hinhalten. Aus Gewohnheit, denn so ist es in meiner Heimat üblich. Zumindest war es dies vor diesem Virus, der uns zum Ellenbogen-Gruß zwang, und wird es sicherlich auch danach sein. Doch was wäre Ihre Reaktion? Bei Ihren deutschen Mitbürgern, besonders den männlichen, beobachte ich in solchen Momenten immer wieder ein leichtes Unbehagen, das sich in einem schamhaften Lächeln oder gar Zurückschrecken äußert und mir das Gefühl gibt, ich hätte mich ihnen an den Hals werfen wollen. Dann erkläre ich, dass wir uns in Frankreich mit einer bise begrüßen. Dieser in der Luft angedeutete, zweifache Wangenkuss beginnt meist rechts, variiert aber je nach Region. So küsst man sich mancherorts nur ein- oder sogar drei- bis viermal und fängt links an, was bei Unkenntnis der Sitten zu einem amüsanten Wirrwarr wie etwa versehentlichen Nasenberührungen führen kann. Aber während man sich bei uns ohne Umschweife küsst, hält man weitestgehend am Siezen fest. Sei es aus Respekt gegenüber Unbekannten und Vorgesetzten, Älteren und Professoren – trotz der Studentenrevolten von Mai 1968. Oder auch: aus Spaß am Liebesspiel. So siezten mein zweiter Mann und ich uns, auch weil der Ausdruck „je t’aime“ schon zuvor vergeben worden war. Obgleich ich uns dabei manchmal selbst als lächerlich empfand, hatte dies nichts mit dem aristokratischen „Sie“ zu tun, das noch heute in einigen traditionalistischen französischen Familien praktiziert wird. In diesen siezen sich manchmal Eltern untereinander, die wiederum von ihren Kindern gesiezt werden und die sich – in besonders konservativen Kreisen – wiederum gegenseitig siezen. Wie halten die Deutschen dieses Spiel mit Nähe und Distanz, zwischen Siezen und Duzen, Küssen und Abstandhalten – und natürlich Sie persönlich? Und: Sollten wir uns duzen?

Bise

Colombe Pringle

 

Karambolage

Magazin
sonntags • 18.55 Uhr
alle Folgen in der Mediathek.

 

Sehr geehrte Frau Pringle,

ich würde gern schreiben: „Liebe Colombe“ – und kann mich doch nicht dazu durchringen. Das liegt an meiner kulturellen Prägung. Wir Deutschen tun uns schwer, Einladungen anzunehmen. Wenig ist uns unangenehmer, als „mit der Tür ins Haus zu fallen“, also die Grenze zum Privaten zu übertreten, selbst nach Aufforderung. So kommt es vor, dass wir, ohne den Mantel abzulegen, im Hausflur herumstehen, statt mit dem Gastgeber einen Kaffee zu trinken: eine Höflichkeit, die in Unhöflichkeit ausarten kann. Auch auf dem Weg vom Sie zum Du bleiben wir oft im Hausflur hängen, auf halber Strecke zwischen Fremdheit und Vertrautheit. Das hat sich in unserer Alltagssprache manifestiert, im „Hamburger Sie“ etwa, bei dem zwar der Vorname benutzt, aber gleichzeitig gesiezt wird – „Frank, kommen Sie bitte mal?“. Ich habe oft erlebt, dass mich jemand in einem Gespräch erst duzt und dann wieder siezt, als hätte er sich vor der eigenen Hemmungslosigkeit erschrocken. Zwar gibt es sogar einen Witz, in dem jemand einen Bekannten fragt, ob sie einander nicht endlich duzen sollten, und dieser antwortet: „Das können Sie machen, wie du willst.“ Aber zum Lachen ist uns Deutschen in der Angelegenheit nicht zumute. Am liebsten würden wir sie in einem Vertrag geregelt sehen. Ich will unsere Brieffreundschaft als solchen Vertrag betrachten und nehme Dein Angebot an, liebe Colombe. Während ich dies schreibe, zittern meine Hände, als würde ich ein fremdes Schloss aufbrechen. Und auch wenn ich peinliche Erfahrungen mit Begrüßungsküssen gemacht habe – inklusive Nasenkarambolage, Kopfnuss, Mund-zu-Mund-Beatmung –, sehne selbst ich mich nach dem, worauf wir in Corona-Zeiten verzichten müssen: Berührung. Für den reibungslosen Ablauf der Choreografie kann ich nicht garantieren. Ich hoffe, du würdest mir das verzeihen.

Herzlich, Dein

Dirk