Liebe Colombe,
in meiner Kindheit gab es ein Ereignis, das ich vermisse: Während der Sommermonate wurden den Fernsehzuschauern jeden Samstagabend drei Filme zur Auswahl gestellt. Sie konnten mit einem Anruf votieren, der Film mit den meisten Stimmen wurde gesendet. Ich rief bisweilen zehn Mal an, in dem Glauben, das Ergebnis dadurch zu meinen Gunsten beeinflussen zu können. Und noch öfter rief ich an, wenn ein Film mit Louis de Funès zur Auswahl stand: „Balduin, der Ferienschreck“, „Der Gendarm von Saint Tropez“ und wie sie alle hießen. Obwohl sich meine Faszination für diese Art von Klamotte gelegt hat und obwohl es keine direkte Verbindung gibt, die von de Funès zu Jean-Luc Godard, Claude Chabrol oder Agnès Varda führt, so würde ich doch sagen, dass damals, an jenen Samstagabenden, wenn auf der eingeblendeten Grafik der Balken des von mir ersehnten Films die anderen hinter sich ließ, meine Liebe zum französischen Kino begann. Warum mich diese Filme so sehr berührt haben, weiß ich nicht. War es dieses Licht, als stünde mehr als nur eine Sonne am Himmel? Die Schwerelosigkeit der Kamera? Die Art, wie geraucht wurde? Ich habe später, als junger Mann, tagelang geübt, wie Jean-Paul Belmondo an einer Zigarette zu ziehen! „Ich mache keine Filme, ich mache Kino“, hat Godard gesagt. Das ist eine schöne Erklärung für dieses Signet namens „französisches Kino“: Wir haben es hier mit etwas zu tun, das über die Länge einer Vorführung hinausweist. Es versetzt uns in die Lage, unsere Existenz nicht als zufällig Hineingeworfene zu erleben – sondern als Protagonisten. Nun hätte ich, liebe Colombe, einige Fragen: Gibt es für Dich ein deutsches Kino? Was sagen Dir die Namen Rainer Werner Fassbinder, Wim Wenders, Volker Schlöndorff oder Maren Ade? Und: Muss es mir peinlich sein, dass ich einst Fan von Louis de Funès war?
Herzliche Grüße,
Dirk
Cher Dirk,
meine allererste Kinoerinnerung geht auf meinen siebten Geburtstag zurück. Damals hatten meine Eltern einen Film von Charlie Chaplin ausgeliehen. Welchen genau, weiß ich nicht mehr. Woran ich mich dagegen sehr gut erinnere, ist das Gelächter von mir und meinen Freundinnen in der Dunkelheit und das Knattern des Projektors. Die auf die Wohnzimmerwand geworfenen Bilder flackerten. Ab und zu verhedderte sich das Band. Das Licht wurde eingeschaltet, die Rolle gerichtet und es ging weiter. Was Louis de Funès angeht, so gibt es keinen Grund für Scham: Er war unser nationaler Charlie Chaplin und meines Erachtens komisch wie poetisch zugleich. Ihm ist sogar ein Museum gewidmet – und rate mal wo? In der einstigen Gendarmerie von Saint Tropez! Auch wenn ich damals ebenfalls über ihn lachte, war mir seine wilde Mimik keine Quelle für Inspiration. Diese nahm ich mir von Nouvelle-Vague-Ikonen wie François Truffaut, Alain Resnais, Louis Malle sowie Éric Rohmer und den im Liebeschaos taumelnden Figuren ihrer Werke. In diesen Filmen wehte der Wind von Freiheit, sie spielten vor bürgerlicher Kulisse und entsprachen damit eher meinem Lebensgefühl zwischen sexueller Revolution und Emanzipation der Frau. Genauso wie mich die androgyne Erscheinung von Jean Seberg inspirierte, die mit Kurzhaarschnitt in „Außer Atem“ brillierte, beflügelte eine gewagte Brigitte Bardot in „Die Verachtung“ meine Fantasie. Darin fragte sie ihren Mann – nackt auf dem Bett liegend –, ob er ihren Hintern hübsch fände. Später entdeckte ich dann das „deutsche Kino“. Mich berührten Wim Wenders’ „Der Himmel über Berlin“ und „Paris Texas“ sowie Fassbinders „Berlin Alexanderplatz“ mit seinem nackten Realismus und der starken Präsenz von Hanna Schygulla und Barbara Sukowa. Und schließlich hat mich Florian Henckel von Donnersmarcks „Das Leben der Anderen“ fasziniert. Denn ist es nicht das, was das Kino ist: eine Einladung, das Leben der anderen zu leben?
In der Hoffnung, dies bald wieder tun zu dürfen,
Colombe