Briefkolumne

Beim Essen scheiden sich die deutsch-französischen Geister. Die einen lieben ein üppiges Diner zur späten Stunde, die anderen ein simples, frühes Abendbrot.

Illustration: Uli Knörzer

Cher Dirk,

im alltäglichen Miteinander kann bekanntlich die Stimmung hin und wieder kippen. Für die einen wegen einer Kleinigkeit, die für die anderen mitnichten so klein ist. Neulich haben mein Liebster ­Mathieu­, seine Tochter Elena und ich einen Moment der Irritation erlebt, der beinahe in eine größere Konfrontation umgeschlagen wäre: Sie, die beiden Deutschen, wollten zu Abend essen – um 19 Uhr! Trotz Elenas charmantem Lächeln verlor ich die Nerven. Denn außer im Krankheitsfall empfinde ich das Essen zu Altersheimuhrzeiten als deprimierend. Ebenso verschlägt es mir den Appetit, wenn sich jeder irgendetwas aus dem Kühlschrank heraussucht und sich mit seinem Teller auf den Knien irgendwo hinfläzt. Für uns in Frankreich ist das Essen eine Sache des Genusses. Man spricht sogar von den „Arts de la table“. Dazu gehört die liebevolle Zubereitung eines Menüs, das hübsche Aufdecken des Tisches und die Krönung des Ganzen mit dem Ploppgeräusch einer entkorkten Weinflasche. In Paris dinieren wir gegen 20.30 Uhr.

Trifft man sich mit Freunden, wird ein Aperitif gereicht, zu dem ein gutes Glas Wein wie Amuse-Gueules gehören. Dabei wartet man auf die später eintreffenden Gäste – denn, genau, bei uns ist man nie pünktlich! Etwa um 21 Uhr begibt man sich zu Tisch, wo Vorspeise, Hauptspeise, Desserts und Käseplatten aufeinanderfolgen. Ein Ambiente, das die Lust auf ein gepflegtes Gespräch anregt. So tauschten wir uns an jenem Abend mit ­Mathieu und ­Elena über deutsch-französische Eigenarten sowie die großen Themen des Lebens aus. Etwas, das bei einem Snack unmöglich wäre. Dabei verriet ich – vom Wein ermuntert –, dass für mich eine Affäre manchmal eine Beziehung retten kann. Nun, lieber Dirk, ich wage es kaum zu fragen, was Du darüber denkst, jedoch, wie Du zu Essensritualen stehst.

Herzlich,
Colombe

Liebe Colombe,

meine Eltern erzählen, ich sei als Kind schon ein Nachtmensch gewesen. Am Abend hätte ich die besten Spielideen gehabt. Vielleicht waren sie nur ein Vorwand, um endlich herauszufinden, was in der Welt vor sich geht, während ich zum Schlafen verdammt war: Ob wirklich ein guter Riese die Träume in die Kinderzimmer bläst, wie Roald Dahl beschreibt? Essen die Erwachsenen dann noch einmal und diesmal richtig, also von dampfenden, übervollen Tellern? Nun, ich bin noch immer ein Nachtmensch, aber damit ziemlich oft allein. Gern würde ich jeden Abend mit lieben Menschen tafeln, wie ihr es in Frankreich zu tun pflegt, mit etlichen Gängen, Aperitifs, Digestifs und all der funkelnden Alchemie, die ihr betreibt, um aus einem Essen ein Ritual zu machen. Doch den meisten meiner Freunde ist es unter der Woche „leider zu spät“. Womit sie alles meinen, was nicht um 22 Uhr vorbei ist.

So lässt sich jedenfalls kein Abendessen ausrichten, das seinen Namen verdient. Vielmehr nennen wir die letzte Mahlzeit des Tages „Abendbrot“, und das ist meist so karg, wie es klingt: Graubrot, Leberwurst und Gewürzgurken auf einem ausgelaugten Holzbrett. Dass wir dennoch beharrlich vom „Feierabend“ reden, ist eine sprachliche Verwirrung. Naturgemäß kann sich keine feierliche Stimmung entwickeln, wenn jeder sich mit seinem traurigen Imbiss vor die Glotze verzieht. Mir scheint, als diente das Essen uns Deutschen, anders als euch, nicht dem Genuss mit allen Sinnen, sondern schlichtweg der Vernichtung des Hungers auf möglichst pragmatischem Wege. Dazu passt, dass wir im Schnitt etwa ein Drittel weniger Geld für Nahrungsmittel ausgeben als ihr. Was die Zeit anbelangt, die wir mit dem Essen verbringen, liegen mir keine Statistiken vor, und sie würden mich wohl auch nur noch neidischer machen. Ohnehin muss ich jetzt Schluss machen: Es gibt gleich Abendbrot. Pünktlich um 18 Uhr. Wenigstens Dir wünsche ich einen schönen Abend.

Es grüßt Dich,
Dein Dirk