Briefkolumne

Sie mag Tiere, doch ebenso ihr Frühstücksei. Er liebt Calamari, doch viel mehr seine Kinder. Deren mahnender Blick sagt ihm: Die Zukunft ist vegan.

Illustration: Uli Knörzer

Cher Dirk,

unlängst habe ich viel Zeit abseits der Hektik der Großstadt verbracht, versunken im Rhythmus der blühenden Rosen und der sprießenden Salatpflanzen. Um mich in puncto deutsch-französische Eigenarten inspirieren zu lassen, habe ich mich an meinen Liebsten gewandt. Ich fragte ihn also nach den Unterschieden zwischen uns – und er nahm diese Frage gleich persönlich. So meinte er, dass ich zuhören würde, um zu antworten, er dagegen, um zu verstehen; dass ich Veganer hassen würde, er wiederum die Dummheit. Was Letzteres angeht, sind wir uns einig, haben jedoch eine durchaus andere Auffassung von ihrer Form. Denn wenn der Kampf gegen die Ausbeutung der Tiere etwa dazu führt, dass ich mich selbst der Eier beraube, wäre das meines Erachtens, wie wir in Frankreich sagen würden, „trop bête“, sprich zu blöd. Ein etwas radikaler französischer Ausdruck für „sehr schade“. So stehe ich jedenfalls zur veganen Ernährung. Zudem habe ich erfahren, dass es radikale Veganismus-Verfechter gibt, die sogar ihre Hunde vegan ernähren. Um dennoch das Gebiss ihrer Vierbeiner zu trainieren, geben sie diesen Kauknochen – und zwar aus Rinderhaut! Apropos Blödheit, ich könnte ebenfalls auf wissenschaftliche Studien verweisen, die die wichtige Rolle von Fleisch für die Entwicklung des menschlichen Gehirns hervorheben. Doch eigentlich möchte ich es nüchtern halten: Ich liebe den Anblick frei umherlaufender Hühner in meinem Hof, nur ebenso mein Frühstücksei. Laut Umfragen gibt es in Frankreich rund 0,13 Prozent Veganer, dagegen 1,7 Prozent in Deutschland. Auch soll Berlin die europäische Hauptstadt veganer Gastronomie sein. Kein Wunder, dass die Grünen bei euch Erfolge feiern. Davon können wir leider nur träumen. Ob wir vielleicht zu blöd sind? Nun, lieber Dirk, was denkst Du über diese Lebensart? Bist Du vegan oder wärst es gern?

Es grüßt Dich,
Colombe

Liebe Colombe,

Du hast recht, Veganismus findet bei uns immer mehr Anhänger. Schon um 1900 bildete sich die Lebensreformbewegung, in der sich Weltverbesserer und Wahrheitssuchende zusammenfanden und durch Freikörperkultur, Alkoholverzicht und vegane Ernährung die Heilung von körperlichen und seelischen Leiden anstrebten. „Offenbar tritt in dem Maße, wie die Kultur sich hebt, an die Stelle der Fleischkost die Pflanzenkost“, so ­August ­Bebel, einer der Begründer der hiesigen Sozialdemokratie. Im Veganismus steckt seit jeher die Idee einer Aufklärung, die nicht nur den Menschen in den Mittelpunkt stellt, sondern auch das Tier: Sind wir wirklich die Krone der Schöpfung, wenn wir unsere Mitkreaturen ausbeuten? Was mich angeht: Als ich aufwuchs, galt Fleisch noch als Garant für Kraft („Damit du groß und stark wirst!“) und Wohlstand (der Sonntagsbraten als Hochamt der Prosperität). In den letzten Jahren aber geht auch mein Konsum zurück. Ich kaufe nur noch selten Fleisch – und selbst das esse ich verschämt. Du musst wissen: Unsere Kinder sind Sichtvegetarier. Sie essen zwar Bratwürstchen und Fischstäbchen, aber was deutlich nach Fleisch aussieht (oder wie sie sagen würden: „nach totem Tier“), erfüllt sie mit Ekel. Oft bauen sie eine Blende um sich herum, damit sie unseren Verzehr nicht ertragen müssen. Aus ihrem Versteck heraus erheben sie Vorwürfe, die uns mehr als einmal den Appetit verdorben haben. Als wir unlängst Calamari aßen, sagte unsere Tochter: „Dieser Tintenfisch könnte jetzt noch im Ozean planschen.“ Ich war außerstande, ihr zu widersprechen. Es war das letzte Mal, dass Calamari auf unserem Speiseplan standen – und auch der Tag unseres letzten Steaks wird kommen, das fühle ich. Der Satz unserer Tochter erinnerte mich an einen Tagebuch­eintrag Franz ­Kafkas: „Nun kann ich euch in Frieden betrachten“, notierte er angesichts von Fischen in einem Aquarium. „Ich esse euch nicht mehr.“ Ich glaube, die kommende Generation wird Frieden mit den Tieren schließen.

Auf die Zukunft!
Dein Dirk