Cher Dirk,
in Frankreich ist gerade viel in Bewegung. Laut einer von Harris Interactive durchgeführten Umfrage wollen rund 40 Prozent der Franzosen „ihr Leben verändern“. Die Menschen sagen, der Grund sei „ein Bedürfnis“, das mit der Pandemie, den Monaten der Einschränkung und der Entdeckung der Vorzüge des Homeoffice zusammenhängt. Ganz oben auf der Liste der Veränderungswilligen stehen Städter und unter 35-Jährige, die davon träumen, ihre Routine von U-Bahn/Arbeit/Schlaf gegen Freiraum/Natur/Radfahren einzutauschen, indem sie an den Rand der Großstadt oder in die Provinz ziehen. Als gebürtige Pariserin hat mich der Gedanke, die Stadt zu wechseln, nie gereizt. Die Liebe schon – das Herz hält einige Überraschungen bereit. Die Arbeit auch. Ebenso die Wohnung – mehr als ein Dutzend Mal habe ich sie gewechselt. Aber das eine Mal, als ich nach der Geburt meines dritten Kindes die Seine überquerte, ließen mein damaliger Mann und ich uns scheiden. Obwohl es nicht direkt mit meiner Untreue gegenüber der Rive Gauche zusammenhing, habe ich es als ein Zeichen gesehen und bin in meine Heimat, das Quartier Saint Germain des Prés, zurückgekehrt, wo ich zu bleiben gedenke. Nur hin und wieder kokettiere ich mit dem Gedanken, noch mal die Straße zu wechseln. Ich liebe es einfach, umzuziehen. Während es mir schon reicht, den Blick aus meinem Fenster zu verändern, sehnen sich viele junge Menschen und auch viele meiner Generation offenbar nach einer Post-Covid-Version der Hippie-Bewegung. Vielleicht ohne Ziegenherde und selbst gemachten Käse, aber mit permakulturellem Gemüsegarten. So sehr mich derlei Ideale faszinieren: Allein beim Gedanken, den Kühlschrank teilen zu müssen, bin ich raus. Und Du, lieber Dirk, hast Du jemals mit dem Gedanken gespielt, Dein Leben komplett umzukrempeln?
Herzliche Grüße,
Colombe
Liebe Colombe,
interessant, was Du aus Paris berichtest – entspricht es doch dem Eindruck, den ich von Berlin habe: Auch viele meiner Freunde denken darüber nach, sich eine andere, neue Existenz aufzubauen. Im fernen Ausland, in der Provinz, im Nirgendwo. Manche ziehen sich, während sie noch träumen, schon mal in einen Kleingarten zurück, den sie im Randbezirk gepachtet haben, und frönen dem, was sie für die Natur halten, umgeben von Autobahnzubringern, Möbelhäusern und Schrottplätzen, an einem Vorposten der vermeintlichen Idylle. Ich glaube, eine Ursache für diese periphere Stadtflucht liegt darin, dass Berlin während der Shutdowns für eine Weile zu einer nie dagewesenen Ruhe fand und dadurch das Leben hier, mitten in der Pandemie, auf eigentümliche Weise angenehmer war als zuvor. Jetzt aber, da die große urbane Maschine wieder angesprungen ist, wird den Leuten geradezu schockhaft bewusst, welchen Zumutungen sie ausgesetzt sind – dem Lärm, dem Gestank, dem Anblick von Verfall, dem Gedränge – und es fällt ihnen schwer, sich wieder daran zu gewöhnen. Neulich zeigte mir ein Freund ein Foto eines Hauses, das er für sich und seine Familie zu kaufen gedenkt: weiße Mauern, rotes Dach, ein paar Bäume, eine Wiese, ein Zaun drum herum; alles recht bescheiden und schmucklos. Für ihn schien es das Paradies zu sein, für mich war es ein Blick in die Vergangenheit: Ich glaubte, mein eigenes Elternhaus zu erkennen, das verblüffend ähnlich aussieht. Würde ich dorthin zurückkehren wollen, woher ich stamme? Wo die Rollläden heruntergelassen werden, sobald die Sonne untergeht, weil die Nacht von alters her als bedrohlich gilt und ich mich an zahllosen Abenden eingesperrt fühlte in ein Verlies der Gemütlichkeit? Vielleicht später mal, wie ein Lachs, der zum Sterben den Fluss hinaufschwimmt, aus dem er in den Ozean aufbrach. Vorerst aber bleibe ich hier, in Berlin. Diese Stadt ist noch immer jeden Tag neu für mich. Jeden Tag hässlich, aber auch jeden Tag schön.
Alles Liebe,
Dein Dirk