Cher Dirk,
jahrzehntelang haben unsere Töchter und Enkelinnen es als altmodisch empfunden, sich als Feministin zu bezeichnen. Doch im Zuge der #MeToo-Bewegung erklären sich laut einer aktuellen Umfrage 67 Prozent der Französinnen als Feministinnen – Sieg! Zwar geht es nicht mehr um das Verbrennen von BHs oder darum, wer den Müll runterbringt (obwohl …), oder um das Statement „Mein Körper gehört mir!“ (Abtreibung ist in Frankreich seit 1974 legal). Junge Frauen gehen heute auf die Straße, um gegen „sexistische und sexuelle Gewalt“ zu demonstrieren, und finden die richtigen Worte, um sich Gehör zu verschaffen. Diskurs-Anreize liefert etwa die Journalistin Victoire Tuaillon; in ihrer Podcast-Reihe „Les couilles sur la table“ („Eier auf den Tisch“) stellt sie Fragen zum Sexismus aus der Perspektive von Männern. Die Schriftstellerin Mona Chollet analysiert wiederum das misogyne Verhalten gegenüber Frauen, die alt, verwitwet oder kinderlos und somit „von allen Herrschaften befreit“ sind. Gerade erschien ihr neues Werk „Réinventer l’amour“ („Die Liebe neu erfinden“) mit dem expliziten Untertitel „Wie das Patriarchat die heterosexuellen Beziehungen sabotiert“. Sie nimmt darin die Auswirkungen der Ungleichheit unter die Lupe. Bemerkenswert ist ihr Bestreben, „Männer vor den Zwängen der Männlichkeit zu retten“, die sie – ich fasse zusammen – dazu zwingen, ihre Gefühle zurückzuhalten und „ihre Kraft mit einer Erektion als Beweis zur Schau zu stellen“. In anderen Worten: Männer befinden sich laut Chollet in einem Korsett, das man ihnen „abgewöhnen helfen muss, damit sie weniger dumm sind“. Männer zu bemuttern, habe ich aufgegeben. Dennoch (noch eine Generationsfrage?) freue ich mich, wenn sie mir die Tür aufhalten oder mich verführen. Und ich gestehe, für den Mann, den ich liebe, koche ich gerne. Wie weit ist die Gleichberechtigung in Deinem Leben, lieber Dirk?
Herzliche Grüße,
Colombe
Liebe Colombe,
mit Verlaub: Einen Mann um seine Meinung zur Überwindung des Patriarchats zu bitten, kommt mir vor, als würde man einen König fragen, was er denn von der Stürmung seines Palastes halten würde. Wobei ich mich natürlich nicht als König bezeichnen möchte, um Himmels willen – aber sehr wohl als jemanden, dem eine Vorherrschaft zugefallen ist, die durch nichts anderes legitimiert ist als durch sein soziales Geschlecht. Virginia Woolf schrieb schon 1929 in ihrem Essay „Ein Zimmer für sich allein“: „Die Frau hat Jahrhunderte lang als Lupe gedient, welche die magische und köstliche Fähigkeit besaß, den Mann doppelt so groß zu zeigen, wie er von Natur aus ist.“ Seither ist eine Menge Zeit vergangen. Also bitte: Fragt weder mich noch irgendeinen anderen Mann, was wir davon halten – tut es einfach: Werft die Lupen fort, macht uns klein, überwindet endlich das Patriarchat. Ich zumindest räume freiwillig den Platz, der mir nicht zusteht. Das Vorhaben von Mona Challet, „Männer vor den Zwängen der Männlichkeit zu retten“, klingt in meinen Ohren wie eine Verheißung. Ich bin zwar gern Vater, Ehemann, Sohn, Bruder, Freund – und in dieser Hinsicht ganz zwangsläufig ein sogenannter Mann. Äußerst ungern möchte ich aber mit einer Gruppe identifiziert werden, für die stark zu sein bedeutet, im Interesse des eigenen Vorteils Formen der Gewalt auszuüben. Noch immer ist diese maskuline Gewalt allgegenwärtig, mal explizit, mal subtil. Neulich etwa hörte ich in einer deutschen Talkshow eine junge Wissenschaftlerin sehr kundig und emphatisch zum Thema Klimawandel sprechen. Ihr gegenüber saß ein älterer Politiker, dem eine derartige Süffisanz und Selbstherrlichkeit ins Gesicht geschrieben stand, dass ich dachte, gleich platzt aus ihm heraus: „Schätzchen, ich erklär dir mal, was wirklich Sache ist.“ Ich wünschte, er hätte sich anders verhalten und würde für immer verstummen. Und das tue ich jetzt auch, um mit gutem Beispiel voranzugehen.
Viele Grüße aus dem
Korsett,
Dein Dirk