Cher Dirk,
bei jeder Rückkehr nach Paris fällt mir auf, wie viele Fahrräder auf den Straßen zu sehen sind. Vor Kurzem wäre ich in der Rue de Rivoli fast von einem Radfahrer angefahren worden, der meiner Meinung nach in die falsche Richtung fuhr – aber der tatsächlich im Recht war. Seit Jahrhunderten war die Straße, die am Louvre und am Tuileriengarten vorbeiführt, eine Einbahnstraße. Jetzt ist sie für Fahrräder reserviert und wird in beide Richtungen befahren – eine der groß angelegten Maßnahmen zur Bekämpfung der Umweltverschmutzung von Bürgermeisterin und Präsidentschaftskandidatin Anne Hidalgo. In Paris gibt es bereits mehr als 1.000 Kilometer Radwege. Um die Mobilität zu steigern, wurden 1.472 Leihrad-Stationen aufgestellt. Habt ihr in Berlin auch diese Selbstbedienungsfahrräder? Hässlich, aber praktisch und günstig: 1 Euro für 30 Minuten. Ich fahre kein Auto und gehöre weder zu den (wenigen) Leuten, die Hidalgo loben, noch zu den (zahlreichen), die sie kritisieren. Allerdings finde ich, dass die Markierungen der Radwege unsere Avenuen optisch verunstalten. Früher habe ich mich jahrelang mit meinem kleinen Motorrad durch den Verkehr geschlängelt. Als meine Tochter zur Welt kam, habe ich es verkauft und erst durch ein schönes Hollandrad und kürzlich durch einen Roller ersetzt. Meist sind es aber meine Füße, die mich durch Paris tragen; ich lege weite Strecken zurück und genieße die Geräusche und Gerüche der Stadt, bevor ich mich auf einer Terrasse für einen Kaffee oder ein Glas Wein niederlasse und die vorbeiziehenden Menschen beobachte. Ebenso wenig wie Autos mag ich Flugzeuge und die Warteschlangen an den Sicherheitskontrollen. Ich nehme lieber den Zug – und warte ungeduldig auf die für 2023 angekündigte Wiedereröffnung der legendären Verbindung Paris – Venedig mit Liegewagen. Und Du, lieber Dirk, wie bist Du im Alltag unterwegs?
Herzlich,
Colombe
Liebe Colombe,
auch in Berlin ereignet sich die, wie sie verheißungsvoll betitelt wird, „Verkehrswende“. Allerdings will sich dabei in meinen Augen keine rechte Veränderung zum Guten einstellen. Vielmehr erlebe ich eine chaotische Gleichzeitigkeit der Anwesenheit aller erdenklichen Fortbewegungsmittel auf unseren Straßen. Es ist, als habe ein verwöhntes, bockiges Kind sein gesamtes Spielzeug über dieser Stadt ausgekippt: Laster, Groß- und Kleinbusse, Trams, Lieferwagen, Autos (darunter allzu viele panzerartige SUVs), Motorräder, Motor- und E-Roller, Lasten-, Renn- und Dreiräder, Kinderwägen – und irgendwo dazwischen, wie traurige, verrenkte Playmobilfiguren, die Fußgänger. Nun gehöre ich vor allem zu Letzteren – aus Leidenschaft und Überzeugung. Auf dem Dorf aufgewachsen, rekonstruiere ich in der Metropole die überschaubaren Strukturen meiner Kindheit und bewege mich beinah ausschließlich in meinem Kiez – zwischen meiner Wohnung, der meines besten Freundes, meiner Stammbuchhandlung, meinem Lieblingscafé und dem Lebensmittelladen meines Vertrauens. Während ich meine alltäglichen Wege zurücklege, halte ich gern mal an, verweile vor einem Schaufenster oder auf einer Bank, mache einen kleinen Umweg. Es kommt vor, dass ich bloß eben Milch holen wollte und meine Frau mich bei meiner Rückkehr Stunden später fragt: „Wo um Himmels willen bist du gewesen?“ Ich entgegne dann: „Überall und nirgends.“ Das Gehen birgt die wundervolle Möglichkeit, dass ich dabei die Zeit vergessen kann – oder vergisst die Zeit etwa mich? Nicht umsonst heißt es ja „Müßiggang“ und nicht „Müßigfahren“. Doch je dichter und damit aggressiver der Verkehr in Berlin wird, desto mehr scheinen die Großen die jeweils Kleineren zu fressen. Lkws und Pkws drängen Roller- und Radfahrer auf die Bürgersteige; und ich, der Fußgänger, drücke mich ängstlich an die Hauswand. Ich träume von einer Stadt, in der es nicht nur weniger Autos gibt, sondern weniger von allen Fahrzeugen.
Liebe Grüße,
Dein Dirk