Briefkolumne

Bücher per Klick bestellen und sich online schnell zum Weltgeschehen informieren – spart Digitalisierung Zeit? Nicht nur, finden unsere Brieffreunde.

Illustrationen: Elisabeth Moch

 

Liebe Colombe,

in meiner Heimatstadt gab es einen Buchladen. Er war kaum größer als die Behausung einer alleinstehenden, sehr kleinen Person. Doch seine Regale waren so voll mit Büchern, dass er mir um die Dimensionen erweitert schien, von denen all die Texte erzählten. Ich kaufte dort mein erstes Buch als Schuljunge (ich glaube, es war „Lederstrumpf“ von ­James ­Fenimore ­Cooper) und später viele weitere. Jedes Mal dauerte es eine halbe Ewigkeit, bis Herr ­Schöttler, der Inhaber, das gewünschte Buch aus den Tiefen hervorzog, es zum Abschied streichelte, in Packpapier einschlug, den Preis in die Registrierkasse tippte und es mir aushändigte. Ich möchte nicht verhehlen, dass mir dieser ganze Ritus mitunter recht zäh vorkam. Sollte ich also nicht begrüßen, dass ich heute, ein Vierteljahrhundert und einen gewaltigen Modernisierungsschub später, Bücher mit nur ein paar Klicks im Internet bestellen kann und nach Hause geliefert bekomme? Sollte ich nicht, da Anfahrtswege und die Gemächlichkeit des kauzigen Herrn Schöttler wegfallen, über viel mehr Zeit verfügen? Hat die Digitalisierung nicht uns allen verheißen, dass wir unsere Einkäufe, Arbeit und Kommunikation effizienter abwickeln? Ich weiß nicht, wie es Dir geht, liebe ­Colombe, aber ich bin ziemlich enttäuscht: Die Zeit, die das Internet mir schenken wollte, zerschlägt es selbst in Tausend Scherben. Eine E-Mail rauscht herein, ein Chat öffnet sich, eine Eilmeldung bricht sich Bahn, ein Twitter-Thread entrollt sich, ein drolliges Video lockt mich an – und nichts davon glaube ich verpassen zu dürfen. Mitunter sehne ich mich danach, bei Herrn ­Schöttler ­Marcel ­Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ zu kaufen. Aber der alte Buchladen ist längst geschlossen – wahrscheinlich ein Opfer des florierenden Onlinehandels. Wie hat das Internet Dein Leben verändert? Und gibt es den Buch­laden Deiner Jugend noch?

Herzlich, 

Dein Dirk

 

Cher Dirk,

eine Lieblingsbuchhandlung hatte ich nicht in meiner Jugend. Dafür gab es die Bücherregale in dem Zimmer, in das ich nach der Geburt meiner Schwester umziehen musste. Ich erkannte schnell mein Privileg, in einem Raum zu schlafen, dessen Wände mit den englischen Klassikern meines Vaters und der französischen Literatur meiner Mutter tapeziert waren. Und da es „keine schlechten Bücher gibt, sondern nur schlecht geschriebene Bücher“, wie meine Mutter zu sagen pflegte, durfte ich alles lesen. Nur manche Bücher wanderten ins oberste Regal. Neugierig kletterte ich an einem Wochenende auf einen Stuhl und griff nach dem Roman von ­Alberto ­Moravia, über den meine Eltern am Vorabend diskutiert hatten. Ich erinnere mich, dass ich an diesem Abend meine ersten erotischen Gefühle erlebte – mit 13 Jahren. Der Titel? „La Noia“ – die Langeweile. Wenn Du mehr darüber wissen willst, geh am besten ins Internet. Natürlich lasse ich mich heute im Netz auch von der Nachrichtenflut einfangen; auf Twitter schaue ich als Tourist vorbei, um mir das Summen der Egos anzusehen. Auf Instagram verzichte ich gerne. Neulich habe ich endlich die Kartons meiner Mutter sortiert. Als ich ihre Notizbücher entdeckte, in denen sie ihre Träume und Gedanken festhielt, war ich gerührt. Es war mein „Madeleine de Proust“-­Moment – der französische Ausdruck für eine wiedergefundene Zeit. Ich fand auch Berge von Briefen von ihren Eltern, ihren beiden Ehemännern, süße Worte von meiner Schwester und mir und intime Schriftstücke von Freunden. Gerührt und nostalgisch über die vermeintlich verlorene Zeit, die durch die Kalligrafie wieder zum Vorschein kam, fragte ich mich: Was wird von unseren verstreuten Freuden, Vorlieben und Wutausbrüchen in der Daten-Cloud übrig bleiben? Abgesehen von der Zeit, die uns das Internet raubt, ist es das Verschwinden der menschlichen Bindung, was mich alarmiert. Wie wäre es also, wenn wir ab und an die Tastatur gegen einen Stift tauschen und einander mündlich sagen: „Ich liebe dich!“?

Nostalgische Grüße,

Colombe

Karambolage

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