Cher Dirk,
jeder Geburtstag ist ein Anlass zum Feiern, aber er ist auch ein Anlass zur Konfrontation mit der Zeit. Wenn ich an die junge ARTE-Generation denke, die zwischen Pandemie, Klimakrise und Krieg an den Toren Europas gefangen ist, sehe ich viele Unterschiede zu meinen 30ern in den späten 1970er Jahren. Damals schien alles möglich, zumindest glaubten wir das, und nichts widersprach unserem Optimismus. Ich hatte freie Liebe (ohne Kondom), zwei Wunschkinder (ohne zu zögern) und meinen Traumjob bei der Zeitschrift Elle (ohne Abschluss) – nur die Gegenwart zählte. Man konsumierte in alle Richtungen; man konsumierte zu viel, wirft man uns Boomern heute vor. Auch hier wieder: Sorg- oder Rücksichtslosigkeit gepaart mit Unwissen. Mittlerweile ist die Welt nur einen Klick entfernt. Die sozialen Medien haben mit ihren Likes die Macht übernommen, was zu mehr Meinungsfreiheit führt, aber auch zu neuen Belästigungen, dem Ende der Privatsphäre und des Rechts auf jugendliche Fehler. Es ist schwierig, sich neu zu erfinden, wenn die Vergangenheit in der Cloud eingefroren wird. Es bleibt ebenfalls festzuhalten, dass man als 30-jährige Frau heute – trotz #MeToo – immer noch und immer wieder für Gleichberechtigung und Gleichheit kämpfen muss. Für viele bedeutet es, zu zögern, ob man jetzt heiraten und/oder ein Kind bekommen soll – oder lieber erst irgendwann später, vielleicht. Die Angst um die Zukunft unseres Planeten spiegelt sich auch in unserer Ernährung (Pflanzen und Samen statt Fleisch) und in einem übertriebenen Positivismus auf Instagram mithilfe von Filtern oder chirurgischen Eingriffen. Po, Brüste, Lippen – alles unecht? Jede Generation hat ihre Exzesse. Von der virtuellen Welt der Metaverse, NFTs oder Kryptowährungen ganz zu schweigen – aber da bin ich endgültig raus. Wie geht es Dir mit Deinen 30ern und den heute 30-Jährigen, lieber Dirk?
Herzlich,
Colombe
Liebe Colombe,
Dein Brief erzeugt in mir den gleichen Schwindel, in den ich bei der Lektüre der Nachrichten gerate. Aus den vielen Hiobsbotschaften der jüngsten Zeit ist mir eine in besonderer Erinnerung geblieben: Ein deutscher Forstexperte berichtete darin von Eichen, die plötzlich umstürzen, weil ihre Wurzeln sie nicht mehr halten. Warum habe ich mir, während sich andere Nachrichten auf der Festplatte meines Hippocampus mangels Speicherplatz einfach selbst löschen, ausgerechnet diese gemerkt? Weil sie eine Metapher ist: Auch wir sind ins Wanken geraten. Schon die Pandemie hat uns an den Rand der Erschöpfung gebracht – und darüber hinaus. Noch bevor wir das überwunden haben, verdunkelt nun der Krieg unsere Gemüter und bindet intellektuelle Kapazitäten, die wir dringend für die Bewältigung anderer kolossaler Herausforderungen bräuchten. Als ich 30 war, vor anderthalb Jahrzehnten, schien die Welt – auch wenn sie bereits das Potenzial für all diese Bedrohungen in sich trug – noch eine andere zu sein. Vielleicht waren wir auch nur naiver. Damals hieß es, 30 sei das neue 20. Die Jugend sei kein vorübergehender Lebensabschnitt, sondern eine Geisteshaltung, die fortdauern könne. Heute scheint mir 30 das neue 90 zu sein! Unter der Last der Probleme krümmen sich schon junge Leute wie Greise. Die Zukunft verengt sich zu einem klaustrophobischen Raum. Wie können wir die Perspektive wieder weiten und erhellen? Ob wir nun 30, 60 oder 90 sind: Wir müssen es schaffen, uns die Leichtigkeit zurückzuerobern, die die universelle Jugend des Geistes mit sich bringt. Denn nur so, mit Kreativität, Elan und Freude am Gestalten, lässt sich das, was vor uns liegt, bewältigen. Ich halte mich an Deinen Landsmann Michel Foucault: „Es gibt im Leben Augenblicke, da die Frage, ob man anders denken kann, als man denkt, und auch anders wahrnehmen kann, als man sieht, zum Weiterschauen und Weiterdenken unentbehrlich ist.“ Lass uns gemeinsam weiterschauen und weiterdenken!
Auf die nächsten 30 Jahre!
Dein Dirk