Briefkolumne

Ist das freiheitliche Prinzip „Mein Körper gehört mir!“ rechtens? Nicht, was Abtreibung betrifft, befand das oberste US-Gericht – zur Empörung der Brieffreunde.

Illustrationen: Elisabeth Moch

 

Cher Dirk,

das Leben hört nie auf, uns zu überraschen. Manchmal zum Guten, diesmal zum Schrecken. Als am 24. Juni bekannt wurde, dass der Oberste Gerichtshof der USA das Recht auf Abtreibung widerrufen hatte, war ich wieder so wütend wie mit 20, als ich mich erstmals als Teil der Frauenbewegung begriff. Mir kamen die Geschichten unserer Mütter in den Sinn, die von den Stricknadeln einer „Engelmacherin“ auf einer Ecke des Küchentischs „gerettet“ wurden. Ich war nicht die Einzige: Am Abend des fatalen Gerichtsbeschlusses fand auf dem Place de la République in Paris eine Solidaritätskundgebung für die US-amerikanischen Frauen statt. Es stellt sich die Frage, ob das Recht auf Abtreibung – in Frankreich 1975 legalisiert und seit 1982 kostenlos – in unsere Verfassung aufgenommen werden sollte, um jeden daran zu hindern, das Recht der Frauen zu beeinträchtigen, über ihren Körper zu bestimmen. Bereits 1949 warnte die Philosophin ­Simone de ­Beauvoir, eine Befürworterin der Geburtenkontrolle, in ihrem Buch „Das andere Geschlecht“: „Vergessen Sie nicht, dass eine politische, wirtschaftliche oder religiöse Krise ausreicht, um die Rechte der Frauen infrage zu stellen. Diese Rechte sind nie selbstverständlich.“ Sie hatte recht: Sechs Richter – darunter eine Frau – genügten, um über das Leben von Millionen von Frauen zu bestimmen, indem sie ihre religiösen Überzeugungen auf oberster Ebene durchsetzten. Als ich im Alter meiner ersten Liebe war, gab mir meine Mutter die Pille, die damals für Minderjährige verboten war. Im Lauf der Jahre vergaß ich sie und ließ abtreiben – dem Veil-Gesetz sei Dank –, aber jedes meiner vier Kinder weiß dafür, dass es das Ergebnis von Liebe und einem gemeinsamen Wunsch ist. Gibt es in Deutschland ebenfalls Bestrebungen, das Grundrecht auf Abtreibung in der Verfassung zu verankern?  

Herzliche Grüße,

Colombe

 

Liebe Colombe,

ein schweres Thema – zu schwer, für unsere öffentliche Brieffreundschaft, so dachte ich zunächst. Hier ging es schließlich auch schon mal darum, wo unsere Landsleute gern Urlaub machen. Jedoch sind finstere Zeiten angebrochen, wie Du richtig feststellst, in denen sich eine radikale, christliche Konterrevolution formiert hat, die den Menschen Freiheiten entreißen will. Zunächst: Ich würde mich nicht als Kulturpessimisten bezeichnen. Gleichwohl bin ich der Ansicht, dass die Aufklärung kein Prozess ist, der – einmal in Gang gesetzt – wie ein treuer Motor immer weiterläuft. Wir selbst müssen dafür sorgen, indem wir uns bilden. Nur so können wir all die Fragen beantworten, die sich uns als Teil einer hochkomplexen Zivilisation jeden Tag stellen. Zugleich gilt es, uns gegen diejenigen zur Wehr zu setzen, die den Prozess durch generalstabsmäßige Desinformationskampagnen oder gar putschartige Manöver rückgängig machen wollen. Ich halte die Aufklärung also nicht für abgeschlossen und bin – aus einer historischen Vogelperspektive – nicht verwundert über Rückschläge auf dem langen Weg zum Licht. Das soll nicht heißen, dass ich davon nicht erschüttert bin. Die Worte der progressiven US-Journalistin ­Ana ­Kasparian haben mich zum Beispiel gleich in zweierlei Hinsicht ergriffen: aufgrund ihres Zorns – und weil wir alle, die wir an die Vernunft glauben, in solchen Zorn hineingetrieben worden sind. „Es kommt mir lächerlich vor zu entziffern, was die Heilige Schrift zu einer politischen Frage sagt“, schleuderte sie den Pro-Life-Aktivist:innen entgegen. „Ihr könnt von mir aus leben, wie die Bibel es vorgibt. Aber ihr habt mir nicht zu diktieren, wie ich lebe. Ich bin nicht gläubig und habe das von der Verfassung garantierte Recht, es nicht zu sein.“ Zum Schluss möchte ich Deine Frage beantworten: Dass „wir“ bereit sind, dieses Recht zu verteidigen, muss ich bezweifeln. Denn dieses „Wir“ ist in Lager zerfallen – das ist ja die Misere. Aber ich bin bereit, und viele andere sind es auch, das kann ich sagen. 

Auf die Aufklärung!

Dein Dirk