Briefkolumne

FERIEN Manche lockt im Urlaub stets das Unbekannte – andere das Wohlvertraute. Eine nostalgische Ode an alte neue Ferienorte!

Illustration: Uli Knörzer

Liebe Colombe,

es gibt nicht viele Fotos von mir als Kind, vielleicht zwei Alben voll. Sie stammen aus einer Zeit, als ein Film nur 36 Mal belichtet werden konnte und jede Aufnahme wohlüberlegt sein musste. Sie zeigen mich bei Anlässen, die meine Eltern vor dem Vergessenwerden bewahren wollten: bei Familienfeiern, eingeklemmt zwischen greisen Verwandten, bei Wochenendausflügen, vor Sehenswürdigkeiten drapiert, an Weihnachten, mit dem ersehnten Geschenk in den Händen – und immer wieder in den großen Ferien. Meine Erinnerung setzt sich aus diesen Fotos zusammen. Und so bilde ich mir ein, damals wären die Ferien länger gewesen als heute, ja, als hätte meine halbe Kindheit aus Ferien bestanden. Meine Eltern, meine Schwester und ich fuhren jedes Jahr auf dieselbe Nordseeinsel, ins selbe Hotel und verbrachten dort die immer gleichen Tage: am Strand, am Meer, unter der Sonne. Und es gibt ja, wie schon Ingeborg Bachmann sagte, „nichts Schöneres unter der Sonne, als unter der Sonne zu sein“. Ich empfinde diese Ferien noch heute als einen Zustand puren Glücks.
Und nach einigen Jahren, in denen ich glaubte, die Welt kennenlernen zu müssen, und sie wie wild bereiste, fahre ich nun wieder – bitte lach’ mich nicht aus, liebe Colombe – jedes Jahr mit meiner Frau und meinen Kindern auf eben jene Nordseeinsel, ins selbe Hotel und verbringe dort mit ihnen die immer gleichen Tage. Ich nehme an, dass ich nach dem vergangenen Glück jage, und es ist, auch wenn ich es nicht recht zu fassen kriege, einfach herrlich. Nun meine Fragen: Bin ich langweilig? Bin ich in Deinen Augen mit meiner Ferienroutine typisch deutsch? Tatsächlich habe ich einige Freunde, die im Sommer wie Lachse an die Stätten ihrer Kindheit zurückkehren. Und wie halten Du und Deine Landsleute es mit dem Verreisen? Sucht auch ihr eure zweite Heimat auf, den guten alten Ferienort? Oder zieht es euch eher in die Fremde?

Gespannt und urlaubsreif,

dein Dirk

Karambolage

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Cher Dirk,

ob Nostalgie eine Nationalität besitzt, vermag ich nicht zu sagen. In jedem Fall halte ich dich in dieser Hinsicht weder für langweilig noch für typisch deutsch. Wir hatten früher in der Normandie ein Ferienhaus, in dem ich mich ebenso amüsierte wie langweilte. So erinnere ich mich an die Freude beim Fröschefangen, Kühemelken oder bei meinem allerersten Kuss mit dem Bauerssohn. Aber genauso an die lästigen Hausaufgaben und den obligatorischen Mittagsschlaf. Nur einmal kehrte ich später zu diesem Haus zurück. Es mag banal klingen, doch kam es mir viel kleiner vor als in meiner Erinnerung. Als ich das Fenster sah, aus dem ich herauszuspringen pflegte, um mich nachts zu meinen Freunden zu schleichen, erschrak ich. Ein Wunder, dass ich mir dabei nicht alle Knochen brach. Meine schönsten Erlebnisse verbinde ich jedoch mit meiner geliebten englischen Großmutter Kitty in Eastbourne. Ich denke an die Kieselstrände und Klippen, an unsere Versteckspiele in den langen Fluren des Cavendish Hotels. Zu meinen besten Erinnerungen, meinen, wie wir auf Französisch sagen, ganz persönlichen „Madeleines de Proust“, zählen die köstlichen Gurkensandwiches zur Tea Time. Seitdem mag ich Hotels. Ob ich sie für Reportagen bewohne oder auf Weltreise mit meinen Kindern, um etwa Japan oder Kuba, Indien und Italien zu entdecken. Doch ich liebe auch Rituale und habe das Glück, einen wundervollen Ausgleich für diese Abenteuerlust zu haben: meinen sicheren Hafen in der Algarve. Seit 30 Jahren reise ich mit meiner Familie zu unserem Urlaubsdomizil nach Portugal. Einem Ort, an dem aus Tradition ein Glockenläuten alle zum Essen ruft. An dem ich mich am Salat aus unserem Garten erfreue, meine Enkelin in Spielzeugkisten ihrer Mutter wühlt und jeder seinen alten Badeanzug wiederfindet. Allabendlich, wenn die Touristen die Strände verlassen, finden wir uns dort zum Schwimmen ein. So vermischen sich, wie auch bei dir, Vergangenheit und Gegenwart. Es leben die Ferien!

Hochgeschlossene Grüße!

Colombe