Cher Dirk,
die großen Ferien neigen sich ihrem Ende zu. Auf unserer Seite des Rheins zelebrieren wir nun wie jedes Jahr ein sehr französisches Phänomen: die „Rentrée“, sprich die Rückkehr vieler Lebensbereiche aus ihrem sommerlichen Dornröschenschlaf. Es ist eine Zeit zwischen Aufregung und Stress, die wir braungebrannt und ausgeruht angehen und meist erschöpft beenden – besonders als Eltern. Denn den Höhepunkt des Ganzen bildet die „Rentrée“ der Schulen, die in Frankreich für alle am gleichen Tag stattfindet. Da meine vier Kinder mittlerweile erwachsen sind, bleibt mir dieser traditionelle Mütter-Marathon erspart. Einst gehörten dazu auch für mich das Abarbeiten von Listen für neue Bücher und Unterrichtsmaterialien, Diskussionen um das x-te Paar Sneaker sowie die Suche nach einem Gitarrenlehrer oder einer Babysitterin. Trotz des Trubels liebte ich diese Phase, besonders die Idee des Neubeginns. Als Kind begeisterten mich der Duft brandneuer Bücher, der Anblick frisch angespitzter Stifte und die Überzeugung, im neuen Schuljahr eine gute Schülerin zu werden. Was Letzteres angeht, so holten mich jedoch die ersten Hausaufgaben stets schnell in die Realität zurück. Später stand die „Rentrée“ für mich auch für die Rückkehr ins Büro, für Tatendrang – und die Lust, mir eine neue Tasche zu gönnen. Jedes Alter kennt eben seinen eigenen Schulranzen- Traum. Nach den Ferien erleben wir hierzulande zudem eine literarische Rückkehr – allein dieses Jahr erscheinen 511 neue Romane – sowie eine politische, wenn Regierung und Parlament ihre Arbeit wiederaufnehmen. Noch heute blicke ich voller Zärtlichkeit auf die Kinder an den Bushaltestellen, ihre gebräunten Beine und zu schweren Schultaschen. Wie zu jeder „Rentrée“ werde ich auch dieses Mal viele gute Vorsätze fassen, die ich dann so lange durchalte, wie ich sie eben durchhalte. Ich weiß zwar, lieber Dirk, dass bei euch diese Zeit des Jahres nicht den Status einer nationalen Institution hat. Doch bedeutet das Ende der großen Ferien womöglich auch für Dich einen Neuanfang?
Colombe
Liebe Colombe,
ich danke Dir für Deinen Brief, den ich mir in den Terminkalender gelegt habe, für den Fall, dass ich Trost brauche. Du zeigst mir das Gute an dem, was ich bislang für vollkommen schlecht gehalten habe. Bitte verzeih mir, dass ich solch ein barbarisches Wort verwende, aber ich hasse das, was ihr „Rentreé“ nennt, in Deutschland aber namenlos ist. Es ist hier auch keine kollektive Erfahrung, weil, wie ich annehme, jeder für sich allein leidet. Ich jedenfalls tue das: Der letzte Tag der Ferien versetzt mich in einen Zustand melancholischer Erschöpfung, aus dem mir nur neuerliche, sofortige Ferien heraushelfen würden. Aber der Vorrat ist aufgebraucht. So auch in diesem Jahr: Am Abend vor der Abreise saß ich allein am Strand und versuchte, mir das Meer abzugewöhnen. Und während ich so dasaß, nach innen weinend, radelte ein Ehepaar die Promenade entlang. „Wie schön“, sagte sie fröhlich zu ihm, „dass wir das noch mitgenommen haben.“ Sie meinte wohl den Sonnenuntergang, er nickte zustimmend. Wie geht das bloß, dachte ich. Nehmen diese Leute den Sonnenuntergang mit wie ein Andenken? Und können sie ihn dann wieder ablaufen lassen, wann immer sie wollen, auch dann, wenn die Sonne gar nicht erst aufgeht, im winterlichen Paderborn, Gießen oder Rüppurr in Karlsruhe? Ich nehme immer nur Sand mit, der mir noch Wochen später aus den Schuhen rieselt, und halte das für eine Zumutung. Was fällt dem Schicksal ein, mir diese paar Körner auf den Teppich zu kippen, als wollte es sagen: „Erinnerst du dich noch an die herrliche Zeit, die längst vorbei ist?“ Ich lief langsam und theatralisch zurück zur Ferienwohnung, wo meine Kinder bereits die Luft aus ihrem aufblasbaren Delfin pressten. Sie lachten dabei, Colombe, sie lachten! Ich fand das, um ehrlich zu sein, äußerst unsensibel, verzichtete aber auf eine Belehrung. Sie sind noch sehr jung und sollen sich auf die Zukunft freuen dürfen. Auch wenn dazu nach meiner Einschätzung bis zu den nächsten Ferien kaum ein Grund besteht. Melancholisch erschöpft,
Dirk