Briefkolumne

NOVEMBER Gegen den Herbstblues rund um katholisches Totengedenken und graue Tristesse helfen nur: Eintöpfe und Geburtstage.

Illustration: Uli Knörzer

Liebe Colombe,

was den November anbelangt, stehe ich fest auf Deiner Seite: Ich mag ihn nicht. Und keine der einundvierzig Versionen, die ich erlebt habe, hat etwas dafür getan, dass sich das ändert. Ich erinnere mich an die düsteren Morgen, da ich an der Haltestelle unseres Dorfes auf den Schulbus wartete, voller Sorge, ich würde in der anstehenden Mathematikklausur versagen. Ich erinnere mich daran, dass die Jalousien der Häuser bereits um vier Uhr am Nachmittag heruntergelassen wurden und ich das Gefühl hatte, in einem Sarkophag gefangen zu sein. Ich erinnere mich an das traditionelle Martinssingen. „Dort oben leuchten die Sterne“, trällerten wir, ein Grüppchen aus drei oder vier in Anoraks gestopften Kindern, und zogen mit unseren selbst gebastelten Laternen und dem Mute der Verzweiflung über die neblige Landstraße. Aber wir sahen ja selbst: Da oben leuchtete gar nichts, mal abgesehen vom kaltblauen Widerschein der Tankstelle an der Wolkendecke. Diese frühkindlichen Erfahrungen müssen auf mich übergegangen sein, als dunkler Fleck auf meiner Seele. Nicht einmal in der Literatur finde ich noch Trost: „Die Blätter fallen mit verneinender Gebärde“, heißt es bei Rainer Maria Rilke. „Es ist Herbst geworden gegen meinen Willen“, schrieb Wolfgang Herrndorf. Und doch gibt es einen Tag in diesem Monat, auf den ich mich freue: Es ist der 29. November, der Geburtstag meines Sohns. Wenn er aus seinem Bettchen schlüpft und noch im Schlafanzug vorm Gabentisch steht, dann sehe ich in seinen Augen die Sonne aufgehen und in meinem Herzen wird es Mai. Trotz des Graupels, trotz der Zumutungen, die der November mit sich bringt, trotz des grauen Einerleis, das er ist. Ich habe bereits mit den Planungen begonnen, Geschenke bestellt, das Tortenrezept recherchiert, die Gästeliste entworfen – damit wir diesen Tag gebührend feiern können. Und nebenbei auch die Tatsache, dass der November sehr bald vorbei sein wird und wir dem Frühjahr auf dem langen Weg, der vor uns liegt, dann ein Stückchen näher gekommen sind. Es grüßt Dich von unterwegs,

Dein Dirk

Cher Dirk,

da ist er schon: November – der meiner Meinung nach langweiligste Monat des Jahres! Man steht schon mit beiden Beinen im Winter, nur schneit es noch nicht. Das Licht ist schwach, der Himmel diesig, die Bäume nackt und die Tage kurz. In der Frühe ist es so dunkel, dass ich kaum aus dem Bett komme. Dabei liebe ich so sehr die Morgendämmerung. Obendrein steht dann hierzulande, wo Feiertage sich am Kalender der katholischen Kirche orientieren, gleich einen Tag nach „Toussaints“ am 1. November – in Deutschland Allerheiligen – die „Fête des Morts“ an, sprich „Allerseelen“. Keine Chance, diesem Ereignis zu entgehen. Bereits am Vortag bilden sich endlose Schlangen vor den Blumenläden, in denen leuchtende Chrysanthemen darauf warten, die Gräber unserer Liebsten zu schmücken. Freilich habe auch ich meine Toten. Ich liebe sie, statte ihnen hin und wieder einen Besuch ab und erzähle ihnen bei einer Zigarette von meinem Leben. Aber das kollektive Totengedenken ist nicht meins. Dennoch fege ich dann über ihre letzte Bleibe und lege dort Heidepflanzen ab, damit sie sich nicht vernachlässigt fühlen beziehungsweise so erscheinen, während ihre Nachbargräber als Zeichen des erzwungenen Gedenkens im neuen Licht erstrahlen. Doch der November bietet auch die Gelegenheit, den Freuden der inneren Ruhe zu frönen. Den Kamin knistern zu hören, im Bett zu lesen, Scrabble zu spielen. Oder auch das „Kochbuch von Madame Saint-Ange“ von 1929 aus dem Schrank zu holen, um nach allen Regeln der Eintopfkunst Kalbsfleischfrikassee, Hühnereintopf und andere sehr französische Gerichte zuzubereiten. Und was gibt es Schöneres, als sich den Gaumenfreuden eines Mahls mit Freunden hinzugeben oder freudigen Momenten im Kreise der Familie? Hast auch Du, lieber Dirk, eine Jahreszeit, die Du gar nicht magst oder nur ein bisschen? Ich bin, zugegeben, ein Weihnachtsmuffel, denn ich hasse diese ausschweifenden Geschenkeinkäufe. Aber gut, momentan schmoren ja noch die Karotten und Zwiebeln in ihren Töpfen. Also, mach’s gut, ich eile zu meinem Ofen!

Colombe