Liebe Colombe,
bald wünschen wir uns wieder „frohe Weihnachten“, doch in meinen Ohren klingt das immer mehr wie „gute Besserung“. Denn viele von uns scheinen, wenn das Fest endlich beginnt, bereits von der Vorweihnachtszeit erschöpft zu sein. Sie folgt unmittelbar dem Spätsommer: Dann tauchen in den Supermarktregalen typische Süßigkeiten wie Dominosteine und Spekulatius auf. Bereits im Herbst gehen übereifrige Bekannte mit der Frage hausieren: „Und, hast du schon alle Geschenke?“ Und man will schreien: „Nein, natürlich nicht!“ Wieder einmal wird man kurz vor Geschäftsschluss überteuerte Verzweiflungspräsente im Shopping-Center kaufen. Zu dieser Eskalation gibt es einen passenden Soundtrack: In zunächst homöopathischen, schließlich toxischen Dosen wird das Radioprogramm mit Weihnachtshits angereichert. Ich nehme an, dass der selige George Michael „Last Christmas“ niemals aufgenommen hätte, wenn er geahnt hätte, wie viele Menschen, die gerade im Feierabendstau auf dem Autobahnkreuz stehen, er mit diesem Song in den Wahnsinn treiben würde. Sei es drum: Derart übersättigt vom Weihnachtszauber und womöglich verkatert vom Glühwein, den man sich selbst gegen die innere und äußere Kälte literweise verabreicht hat, möchte man sich eigentlich nur noch unter den Christbaum legen und schlafen, bis all das endlich vorbei ist. Nur steht ja noch – wenn nicht coronabedingt abgesagt – der Besuch der Verwandtschaft bevor … Geradezu folgerichtig, dass somit eines der beliebtesten Gerichte am Heiligen Abend bei uns Kartoffelsalat mit Würstchen ist. Denn wer hat dann noch die Kraft, aufwendig zu kochen? Nun bin ich gespannt, wie bizarr Dir unser Brauchtum vorkommt: „Wham!“, warmer Wein und ganz profane Würstchen. Wie also vollzieht sich die Weihnachtszeit eigentlich in Frankreich? Ist sie auch bei Euch nur eine einzige Anstrengung, die es hinter sich zu bringen gilt, oder doch das Fest der Ruhe und der Liebe?
Welche Rituale schätzt Du und welche nicht? Und was darf ich Dir wünschen: frohe Weihnachten oder gute Besserung? Im Zweifel beides!
Dirk
Cher Dirk,
es gibt tatsächlich etwas an eurem Weihnachtsprogramm, das ich sehr schätze: den Kartoffelsalat. Ansonsten gebe ich zu, dass der bloße Gedanke an Weihnachten mich erschöpft. Diese künstliche Fröhlichkeit, die in den Schaufenstern blinkt, und die lange Geschenkeliste, die es in Marathoneinkäufen abzuarbeiten gilt und trotz derer man stets eines vergisst. Hinzu kommt all die Werbung, der wir ausgeliefert sind und die in uns das Verlangen nach unnötigen Dingen zu wecken versucht. Und dennoch: Je näher das Fest rückt, umso mehr finde ich Gefallen an diesem Spiel. Ich bestelle bei meinem Metzger den Kapaun für den Braten. Diesen Gallus gallus domesticus, dessen Schicksal Tierschützer erzürnt: Nachdem er kastriert und mit Weizen gemästet wurde, bereichert sein zartes Fleisch am Weihnachtstag die feierliche Tafel. Nicht zu sprechen von der „foie gras“, der Gänsestopfleber, die halb gegart mit einem Glas Sauternes serviert wird und die eine weitere französische Tradition darstellt. Dennoch habe ich alle Jahre wieder eine Verzichtliste. Vor zwei Jahren entschieden wir etwa, aus ökologischen wie ökonomischen Gründen, das gegenseitige Überbieten mit Geschenken zu beenden und ein kleines Budget für Präsente festzulegen. Das ist amüsanter und erfordert Kreativität. Letztes Jahr wiederum wollte ich den Weihnachtsbaum streichen. Schließlich sind meine vier Kinder schon zu groß und meine Enkelin ist noch zu klein – dachte ich zumindest. Aber kaum traf mein Jüngster ein, rebellierte er. Und so eilten wir zum Blumenladen, wo noch ein letzter Baum stand: schön, groß, nach Wald duftend. Ich holte die Leiter, Weihnachtskugeln und Girlanden und wir machten uns ans Schmücken. Die größte Freude an Weihnachten ist unser Beisammensein am Tisch vor der Kulisse brennender Kerzen. Doch wenn die Tanne ihre Nadeln abgeworfen hat und alles aufgeräumt ist, kommt erst noch das Schlimmste: Silvester. Diese Party überspringe ich. Also, lieber Dirk, frohe Weihnachten und bis nächstes Jahr!
Colombe