Briefkolumne

Zeit: Wie blickte unser Kolumnistenpaar gestern auf das Morgen? Die eine ging 1968 auf die Barrikaden, der andere träumte im Sommer 1984 vom Fliegen.

Illustration: Uli Knörzer

Liebe Colombe,

ich hatte noch nie ein so starkes Gefühl, dass sie begonnen hat: die sogenannte Zukunft. Bislang ist auf eine Gegenwart immer eine andere Gegenwart gefolgt, neu zwar, aber sich doch aus der vorausgegangenen entwickelnd. Dass ich einen solch rapiden Zeitsprung wahrnehme, liegt wohl an der Zäsur, die die Pandemie ausgelöst hat. In einem Interview, das ich gelesen habe, wurde eine Epidemiologin gefragt, wie wohl ein Raumfahrer reagieren würde, der die Erde vor einem Jahr verlassen hat und nun heimkehrt. Ihre Antwort: „Er wäre völlig schockiert.“ Ehrlich gesagt, bin ich das, auch ohne ins All geflogen zu sein. Nur erlaube ich mir diese tägliche Schockwirkung nicht, weil es ja trotz all dem weitergehen muss: Papierkram erledigen, den Müll runterbringen, verlorene Socken suchen, die verkrusteten Pfannen schrubben. Schade nur, dass die Technologien, die uns diese Mühen abnehmen, auch in der nun angebrochenen Zukunft auf sich warten lassen. Ich erinnere mich, wie ich mir als kleiner Junge die Zukunft vorstellte, damals, als ­Helmut Kohl unser Land regierte, das große Waldsterben drohte und „­Relax“ von ­Frankie Goes to Hollywood der Hit des Jahres war. Ich verfolgte im Fernsehen die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Los Angeles. Es war der Sommer 1984, und über dem Stadion schwebte, mit einem Düsenrucksack auf den Schultern, der Rocketman. Und zwar mit so atemberaubender Leichtigkeit, dass ich dachte, es würde bloß ein paar Monate dauern, bis wir alle fliegen könnten, zur Schule, ins Freibad, zu Freunden. Leider ist der Rocketman, dieser utopische Held, nurmehr ein Sinnbild dafür, dass die Zukunft die lästige Angewohnheit hat, ihre Versprechen nicht zu halten. Und Du, liebe ­Colombe: Wie hast Du Dir als Mädchen das Morgen ausgemalt? Und was ist davon eingetreten und was nicht?

Es grüßt Dich aus der Gegenwart der Zukunft
Dirk

Karambolage

Magazin
sonntags • 18.55 Uhr
alle Folgen in der Mediathek.

Cher Dirk,

sobald ich über Zeit nachdenke, beginne ich, „Le Temps des Cerises“ vor mich hinzusummen. Dieser Klassiker unter den französischen Chansons, einst gesungen von ­Yves ­Montand, ruft in mir Erinnerungen an den Frühling und die Liebe hervor. Alsbald bin ich gedanklich bei Pflanzen und den Jahreszeiten. Hinter meinem Haus auf dem Land etwa blühten in diesem Jahr bereits im Januar die Mandelbäume, einige Wochen zu früh. So wird heute die Zeit anhand des Klimas für mich greifbar. Als ich klein war, fiel mir ein Verständnis für Zeit dagegen schwer. Ich wollte immer alles haben – und zwar sofort. Natürlich erfolglos. Man warnte mich vergeblich vor Gefahren und so kletterte ich auf Bäume oder Mauern und fiel, wie angekündigt, bei dem Versuch, Frösche zu fangen, in die Pfützen. Jahre später ließ ich von den Fröschen ab und widmete mich den Jungs. Damals regierte ­Charles de ­Gaulle unser Land, der Held des freien Frankreichs. ­Brigitte ­Bardot sang an der Seite von ­Serge ­Gainsbourg und trällerte von der Freiheit auf einer „Harley Davidson“. ­Jane ­Fonda spielte die verführerische Weltraum-Agentin „Barbarella“ in ­Roger ­Vadims gleichnamigem Film. Während Großbritannien zu jener Zeit noch vom EU-Beitritt träumte, befanden die Beatles wiederum: All you need is love. Und ich war einverstanden. Das sogenannte Neuwirth-­Gesetz von 1967, das Verhütungsmittel legalisierte, brachte uns Französinnen Freiheit und bewahrte uns vor der Angst am Tag danach. Im darauffolgenden Jahr ging ich bei den Revolten vom Mai 1968 nachts auf die Barrikaden und machte mich tagsüber im bestreikten Paris auf den Weg ins Büro. Zu meinem ersten Job und meinem ersten Gehalt. De Gaulle trat ab, und ich durfte bald wählen. Und dennoch dachte ich, lieber Dirk, weder an die Zukunft noch an die Vergangenheit. Ich lebte für den Moment und tue es noch heute. Dazu fällt mir ein weiterer Klassiker ein, dieses Mal von ­Elvis: It’s now or never, … Tomorrow will be too late … Kiss me my darling …

Grüße aus dem Jetzt,
Colombe