Hymnen in Blue Jeans

So geerdet, so nahbar: Bruce ­Springsteen ist bei linken Intellektuellen ebenso beliebt wie bei Trump-Wählern. Den Clash des amerikanischen Traums verpackt er in triumphale Melodien. Warum können sich auf ihn alle einigen?

Bruce Springsteen
Foto: Steve Granitz/WireImage/Getty Images

Es gibt so viele Geschichten über Bruce Springsteen. Einmal zum Beispiel, da ging er in St. Louis abends allein ins Kino. Nach der Vorstellung lud ihn ein Fan zu sich nach Hause ein; mit dem Besuch wollte der Teenager seine Mutter überraschen. Springsteen ging mit, und man sieht die Szene förmlich vor sich: wie sie dann nachts zu dritt am Küchentisch sitzen und Rührei essen. Oder, in einer anderen Dekade: wie er an einem Abend im Juli 1969, während die ersten Menschen auf dem Mond landeten, in einer Kaschemme in New Jersey vor ein paar Gästen spielte. Der Auftritt dauerte nicht lange; er endete in einem Streit darüber, ob man nicht lieber die Glotze anstellen solle. Aber Springsteen erfüllte sein Engagement, tat seine Pflicht, so wie er es immer getan hatte: als hart arbeitender Rockmusiker, der sich für Bodenständiges nicht zu schade ist.

Solche Erzählungen gehören zur Springsteen-­Folklore wie die Autos und die Stirnbänder und seine Freundschaft mit ­Barack ­Obama. Der sagte einmal: „Ich kandidiere für das Präsidentenamt, weil ich nicht ­Bruce ­Springsteen sein kann.“ Wenn sich in den USA Leute aus dem demokratischen und dem republikanischen Lager auf irgendetwas einigen können, dann auf ihn. Den Europäern wiederum gilt er als der gute Amerikaner: jemand, der ­Donald Trump verabscheut, der Werte vertritt, aber nicht elitär rüberkommt. Erdverbunden, lederstiefelig. Das Gewissen der Mittelschicht. Wieso gerade er? Dieser Mann scheint etwas an sich zu haben, auf das sich alle einigen können.

BOMBASTISCH UND HEMDSÄRMLIG

In erster Linie ist er natürlich ein sehr erfolgreicher Rockmusiker. Die Bilanz sieht so aus: mehr als 150 Millionen verkaufte Platten, 20 Grammys, ein Oscar für „Streets of Philadelphia“, den Titelsong zum Drama „Philadelphia“ (1993) mit Tom Hanks. Die meisten großen Hits aber stammen aus den 1980er Jahren, als -Springsteen begann, riesige Stadien zu füllen und auf einer Stufe mit Michael -Jackson, Madonna und Prince rangierte. Seine Songs hießen „Born in the USA“, „Dancing in the Dark“, „I’m on Fire“ oder „Hungry Heart“: Hymnen für den Feierabend, bombastisch und hemdsärmelig zugleich. Auf dem Plattencover zum Album „Born in the USA“ (1984) sah man damals -seinen Jeanshintern vor den Farben der US-amerikanischen Flagge. Klischees und Pathos hat Springsteen nie gefürchtet. „Er beherrscht die Kunst des Schlagworts“, so drückt es der britische Schriftsteller Nick Hornby aus. Ein paar griffige Strophen, und schon überkomme einen der Impuls, ins Auto zu springen und Richtung Sonnenuntergang zu rasen.

Springsteens Geschichten handeln von Arbeit, Liebe, Glaube und Rock ’n’ Roll. Seit seinem Debüt „Greetings From Asbury Park, N. J.“ aus dem Jahr 1973 besingt er seine Version des amerikanischen Alltags. Meist geht es um sogenannte einfache Leute: um Cherry, Sandy oder Wayne, um Außenseiter und Arbeiter, die sich in Fabriken mühen und nachts mit dem Chevy durch die Gegend brettern. Unabhängige Frauen, Männer ohne Zukunft. Es geht um heruntergekommene Industriestädte und Veteranen, die versehrt nach Hause kommen aus Vietnam, später aus dem Irak.

 

Porträt Bruce Springsteen Beginn Karriere
Zu Beginn seiner Karriere sah man ­Springsteen noch deutlich an, wie sehr er Bob ­Dylan verehrte. Nach Woodstock fuhr er trotzdem nicht: „zu viel Aufwand, zu viel Fahrerei und zu viele Drogen“.Foto: Mark und Colleen Hayward/Getty

Bruce Springsteen, der amerikanische Freund

Porträt

Mittwoch, 31.7.
— 22.10 Uhr
bis 29.8. in der Mediathek

RUPPIGE JUGEND IN NEW JERSEY

Natürlich ist auch Springsteen klar, dass Teile seiner Kernklientel längst ins Lager „Make America Great Again“ übergelaufen sind. Und dass die Balladen vom kleinen Mann aus dem Mund eines Multimillionärs anders wirken als von einem jungen Typen ohne Bankkonto. „Er ist ein großer populärer Künstler und Songschreiber, aber er ist kaum ein politischer Revolutionär“, sagt David Remnick, Chefredakteur des New Yorker und Autor einer Springsteen-Biografie, im Gespräch mit dem ARTE Magazin. „Er ist der Kerl, der den ,rosa Cadillac‘ fährt, die unglaublichen Früchte seiner Arbeit genießt. Es ist ebenso wahrscheinlich, dass er Zeit auf der Jacht von David Geffen verbringt, wie dass er am Strand von Asbury Park abhängt.“ Springsteen selbst drückt es so aus: „Ich habe absurden Erfolg damit gehabt, über Dinge zu schreiben, von denen ich nicht die geringste Ahnung habe.“ Schließlich habe er nie ein Fließband aus der Nähe gesehen, nie einen normalen Job gemacht.

Ein wenig kennt er die ruppige Welt aber doch, aus New Jersey, wo er aufgewachsen ist, zwischen Jugendbanden, Kirche und irisch-italienischer Großfamilie. In seiner Autobiografie „Born to Run“ (2016) beschreibt Springsteen, wie sein Vater, ein Gelegenheitsarbeiter mit psychischen Problemen, Abend für Abend mit einem Sechserpack Bier in der dunklen Küche hockte und nur darauf wartete, den Sohn herunterzuputzen: „Er liebte mich, aber er konnte mich nicht ausstehen.“ Rettung sollte die Musik bringen, der sich Springsteen seit Teenagertagen wie versessen widmete. Seine Helden hießen Elvis, Roy Orbison und Bob Dylan.

Jahrelang ackerte er dann als Liedermacher in der Provinz, ehe er 1972 einen Plattenvertrag bei Columbia Records unterzeichnete. Es folgten zwei beachtete, aber wenig erfolgreiche Alben, die nostalgischen Rock ’n’ Roll, Folk und Soul verschmolzen. Der Durchbruch kam 1975 mit der wuchtigeren Platte „Born to Run“. Produziert hatte sie Jon Landau, der Musikkritiker, der nach einem Springsteen-Konzert in Cambridge ein paar Jubelzeilen schrieb, die fortan bis zum Abwinken zitiert wurden: „Ich habe die Zukunft des Rock ’n’ Roll gesehen, und ihr Name ist Bruce Springsteen.“ Es war der Beginn einer Karriere, in der -Springsteen immer wieder verschiedene Stile bediente: Die Soul- und Bläser-Elemente der frühen Tage. Die klampfenden Liedermacherlieder, die das erst gefloppte, später verehrte Album „Nebraska“ von 1981 tragen. Und schließlich der reibeisene Radioklang, der ihn zum Popstar machte: massive Sounds für die Massen. Bemerkenswert ist bei denen, dass eine Schere zwischen Inhalt und Hülle entsteht. Denn selbst wenn es um Arbeitslosigkeit und industriellen Niedergang geht, wummern diese Songs optimistisch und triumphierend nach vorn. Insofern leuchtet ein, dass Ronald Reagan und andere das Lied „Born in the USA“, das von im Stich gelassenen Vietnamveteranen handelt, für eine patriotische Jubelhymne hielten. Der US-Politikwissenschaftler Christopher Borick erklärt es damit, dass Springsteen seine liberalen Botschaften gern in konservative Symbole verpackt: die Flaggen, die Jesus-Verweise. Natürlich hat Springsteen klargemacht, wofür er steht, etwa im Wahlkampf mit John Kerry oder Barack Obama. Doch vielleicht steckt in diesen Widersprüchen das Geheimnis seiner Konsensfähigkeit. Wer hinhört, bekommt die sozialkritischen Texte. Wer eine pompöse Rockhymne will, bekommt auch die.

 

Konzert von ­Bruce Springsteen 2023
Chefsache: Wer ein Konzert von ­Bruce Springsteen besucht, bekommt einen Bühnenmarathon geliefert, der sich über Stunden zieht. Schließlich ist der „Boss“, hier 2023 im italienischen Ferrara, berühmt für sein Arbeitsethos. Foto: Mairo Cinquetti/SOPA Images/ZUMA Press Wire/picture alliance

Bruce Springsteen and The E Street Band: Darkness on the Edge of Town

Konzert

Mittwoch, 31.7.
— 23.00 Uhr
bis 29.8. in der
Mediathek

Und der „Boss“, der fast schon präsidiale Titel, der zu ­Springsteen gehört wie das Schweißband am Handgelenk? Ein bandinterner Spitzname, der sich verselbstständigte. Aus einer Zeit, als er noch eigenhändig die Lohntüten an seine Mitmusiker verteilte, so erzählt er es in der Dokumentation „­Bruce Springsteen, der amerikanische Freund“, die ARTE im Juli zeigt. Selten wohl ist ein hierarchischer Begriff liebevoller verwendet worden.

Heute ist Springsteen 74 Jahre alt und noch immer berühmt für stundenlange, kräftezehrende Konzerte. Er hat eine ewig ausverkaufte Broadway-Show gegeben, aus der ein Netflix-Format wurde. Er hat über sein Leben geschrieben und über die Depressionen, die ihn in den 1980ern befielen. Und nun? Können seine Erzählungen von Highways, Benzin und Flanell noch etwas sagen über die Probleme der Gegenwart? „Der Schriftsteller ­Philip Roth hat einmal die Befürchtung geäußert, die Fiktion könne mit dem Wahnsinn des amerikanischen Lebens nicht Schritt halten“, sagt ­David ­Remnick vom New Yorker. „Doch ­Bruce versucht es.“ Er arbeite sich weiter an den Rissen des Landes ab. Und hat, glaubt Remnick, noch etwas anderes beizusteuern – „ein Gefühl von Freude“. Das kann die Welt sicherlich gut gebrauchen. Und sei es nur für eine verschwitzte Konzertlänge.

Ich habe über Dinge geschrieben, von denen ich keine Ahnung habe

Bruce Springsteen, Musiker