Wider die Zensur

Zu explizit, zu unchristlich, zu divers: In den USA gehen Konservative vielfach gegen für sie unliebsame Bücher vor. Was bedeutet das für die Schreibenden?

Illustration von einem verschlossenen Turm aus Büchern
In den USA stehen dem Lager der Liberalen konservative Zensurverfechter gegenüber. Die American Library Association (ALA) veröffentlicht jährlich eine Liste der zehn „Most Challenged Books“ in den USA – Bücher, für die am häufigsten eine Entfernung aus Bibliotheken und Lehrplänen beantragt wurde. Illustration: Andrea de Santis

Das derzeit angeblich gefährlichste Buch der Vereinigten Staaten ist 239 Seiten stark. Es dreht sich um ein Kind, das alle, außer es selbst, für ein Mädchen halten, und um sein Erwachsenwerden mit einer nichtbinären Identität. Es geht um Menstruationsblut, Umschnall-Dildos und explizit gezeichneten Sex. Vor allem aber geht es um die, für Teenager typische, Suche nach Zugehörigkeit. Im April 2024 veröffentlichte die American Library Association (ALA) eine Liste der zehn „Most Challenged Books“ in den USA – Bücher also, für die 2023 am häufigsten eine Entfernung aus Bibliotheken und Lehrplänen beantragt wurde. Eine Praxis, die so in Deutschland undenkbar wäre. Seit drei Jahren führt ­Maia ­Kobabes Debüt „­Gender Queer“ (2019) diese Liste an. 2023 wurde der Comicroman 106 Mal angefochten – viel Aufmerksamkeit für ein Buch, das ursprünglich den Charakter privater Aufzeichnungen hatte und nur 5.000 Mal gedruckt werden sollte.

Seit Jahrzehnten werden Bücher, die sich mit dem Thema Sexualität auseinandersetzen, in den USA vielfach kritisiert und zum Teil zensiert. Kurz vor der Präsidentschaftswahl erhalten die sogenannten Book Bans nun besonders viel mediale Aufmerksamkeit. Dies liegt auch an den Zahlen, die 2022 und 2023 durch die ALA sowie den Autorenverband PEN America erhoben wurden und die politische Relevanz besitzen. Das Ergebnis der Analysen: Die Versuche, Bücher mit dem Argument des Jugendschutzes verbannen zu lassen, nehmen signifikant zu. Wurde in den drei Jahren vor der Coronapandemie im Schnitt für knapp 490 Bücher ein Verbot gefordert, waren es 2021 rund 1.800. Im letzten Jahr wurde nun mit mehr als 4.000 Büchern ein bisheriger Höchstwert erreicht. Zudem zeigen die Auswertungen: Book Bans, die einst oftmals von Elternverbänden angestoßen wurden, werden in den USA mittlerweile durch religiöse Gruppen und konservative Politiker vorangetrieben.

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Zusätzlich werden in vielen republikanisch regierten Bundesstaaten neue Gesetze mit einer ähnlichen Stoßrichtung verabschiedet: In Florida sieht ein Gesetz seit 2023 unter anderem vor, dass Bibliothekare ein staatliches Programm durchlaufen müssen, in dem vermittelt wird, welche Inhalte künftig in Schulbibliotheken erlaubt sein sollen und welche nicht. Der Großteil der verbannten Bücher behandelt laut dem PEN-Bericht Themen, die sich, wie ­Maia ­Kobabes „Gender Queer“, mit Fragen der sexuellen Identität und Orientierung befassen, oder sie stammen und handeln von People of Color oder ethnischen Minderheiten.

Für die betroffenen Autorinnen und Autoren bedeuten ein Verbotsantrag oder auch ein tatsächlich umgesetztes Verbot zunächst einmal finanzielle und persönliche Unsicherheit: „Das erste Mal, dass ich hörte, dass mein Roman angefochten worden war, war im Herbst 2021, kurz vor den US-Zwischenwahlen“, sagt ­Maia ­Kobabe.  Neben der Sorge vor dem drohenden Verlust potenzieller Leserinnen und Leser und somit auch finanzieller Einnahmen gebe es auch Schreibende, die vor Reizthemen zurückschreckten, weil sie einen Reputationsverlust, Shitstorms oder gar körperliche Angriffe befürchteten.

Wachsende Leserzahlen für verbotene Bücher

Dabei befinden sich die Autorinnen und Autoren, die von einem Book Ban betroffen sind, in guter Gesellschaft: Vielfach angefochten wurden auch erfolgreiche Bücher wie etwa J. D. ­Salingers Klassiker „Der Fänger im Roggen“ (1951) für vulgäre Sprache, der Roman der Nobelpreisträgerin ­Toni ­Morrison „Sehr blaue Augen“ (1970) für sexuell explizite Schilderungen oder J. K. ­Rowlings „Harry Potter und der Stein der Weisen“ (1997) für die Beschreibung von schwarzer Magie. Manchmal erreichen die Verbotsversuche auch das Gegenteil von dem, was sie beabsichtigen: Forschende von der Carnegie Mellon University wiesen 2023 nach, dass die Ausleihen der betroffenen Bücher in Bibliotheken um rund zwölf Prozent gestiegen sind. Auch die Karriere von ­Maia ­Kobabe hat der Spitzenplatz auf der Verbotsliste, trotz aller persönlichen Nachteile, befeuert: In US-Bibliotheken, in denen „Gender Queer“ noch verfügbar ist, gibt es lange Wartelisten für das Buch. Bis Ende 2022 wurden bereits über 96.000 Exemplare des Comicromans verkauft, 2024 ging das Buch in seine fünfte Auflage.