Der eine Punkt zum Ruhm

Der Grand Prix Eurovision änderte für Céline Dion alles: Völlig überraschend gewann die Kanadierin den Wettbewerb für die Schweiz – und baute dann eine Popstar-Karriere auf.

Porträt von Céline Dion in schwarz-weiß
Foto: George Holz / Trunk Archive

Knapper hätte es nicht sein dürfen – am 30. April 1988 in Dublin, dem Austragungsort des 33. Grand Prix Eurovision de la Chanson, so der Name des späteren Eurovision Song Contest. Fast alle Stimmen sind ermittelt, nur Jugoslawiens Punktevergabe steht noch aus. England liegt mit 136 Punkten in Führung, dahinter die Schweiz mit 131 Punkten als Zweitplatzierte. Wie würde Jugoslawien sich entscheiden? Sechs Punkte gehen an die Schweiz, okay, das macht 137 Punkte und würde nicht reichen, denn England hat ja noch keine Punkte von Jugoslawien bekommen. Dann sieben Punkte für die Niederlande. Acht für Deutschland. Zehn für Norwegen. Und zwölf für …? Frankreich! England geht leer aus. Kameraschwenk auf das Schweizer Lager: Jubel, Fahnen, Umarmungen. ­Céline ­Dion, Interpretin des Siegerlieds „Ne partez pas sans moi“ rückt ins Blickfeld. Sie wischt sich Tränen aus dem Gesicht und schreitet auf die Bühne.

Aber wer ist eigentlich diese Céline Dion? In der Schweiz wusste das damals niemand und im Rest von Europa auch nicht. In ihrer Dokumentation „­Céline ­Dion – Aufstieg einer Diva“, die ARTE im Juli zeigt, begeben sich die Filmemacher ­Vincent ­Gonon und ­Noël ­Tortajada auf Spurensuche, zurück zu jener Nacht, die den Weg dafür bereiten sollte, dass aus der 19-jährigen kanadischen Sängerin ein internationaler Superstar wurde. In Dublin war davon nach heutigen Maßstäben noch wenig zu spüren. Wie festgenagelt stand Dion verlassen auf einer riesigen Bühne, noch weit entfernt vom Superstar. Brünettes Haar, zugeknöpftes weißes Jackett, weißer Tüllrock bis zum Knie, weißer Puder im Gesicht. Man könnte auch sagen: Sie wirkte in diesem Moment ein wenig blass. Aber sie sang, wie andere Leute Berge besteigen – nur dass ihr in Gipfelnähe die Luft nicht ausging und die Stimme immer kraftvoller wurde. „Geht nicht ohne mich!“, schmetterte sie. „Keine Sorge ­Céline“, wollte man ihr zuflüstern, „bei dem Gesang wären wir nicht einmal auf die Idee gekommen.“

Céline Dion – Aufstieg einer Diva

Musikdoku

Mittwoch, 17.7.
— 22.00 Uhr
bis 14.9. in der
Mediathek

 

DIE KARRIERE – EIN FAMILIENPROJEKT

Celine Dion hatte lange auf diesen Moment hingearbeitet: Aufgewachsen in der Nähe von Montreal ist sie das jüngste von 14 Kindern. Vater Adhemar jobbte mal als Metzger, mal als Wachmann oder Waldarbeiter, Mutter Thérèse war Hausfrau und die Musik ein zentrales Element im Hause Dion. Ihr erstes Lied „Ce nétait qu’un rêve“ schrieb Céline Dion mit ihrer Mutter und ihrem Bruder Jacques im Alter von zwölf, worauf ein anderer Bruder – bei den Dions pflegte man Arbeitsteilung – eine Aufnahme davon dem Musikmanager René Angélil schickte.

Der Legende nach kamen ihm beim Hören die Tränen. Im Wissen, es mit einem gewaltigen Talent zu tun zu haben, nahm er sich Dions Geschicke an und belieh zur Finanzierung ihres ersten Albums sogar sein Haus mit einer Hypothek. Auch in der ARTE-Dokumentation sieht man Angélil ständig an Dions Seite. Sie ist ganz Wirbelwind und er die Ruhe selbst. „Die beiden widmen sich ihrem gemeinsamen Unterfangen, als wäre er der Trainer und sie die Athletin“, sagt Valentin Grimaud, Autor der Biografie „Céline Dion: Vestale“ (2023).

Natürlich war alles auf Perfektion ausgerichtet – die Gesangsakrobatik, die Karriereplanung, das Image. Céline Dion ist 13 Jahre, alt als ihr Debüt „La voix du bon Dieu“ erscheint. Mit 14 gewinnt sie einen Gesangswettbewerb in Japan, mit 15 wird sie in Frankreich für ihre Single „D’amour ou d’amitié“ mit Gold ausgezeichnet. Das große Ziel: Weltruhm, mindestens. Der Grand Prix war damit die perfekte Bühne, immerhin schaute die halbe Welt zu. Aber was sich nicht nur Schweizer damals fragten: Durfte sie als Kanadierin eigentlich für die Eidgenossen antreten? Oh ja! Das Regelwerk besagte lediglich, dass das Lied in der Landessprache des Teilnehmerlandes vorgetragen werden müsse und sowohl Komponist als auch Autor die entsprechende Staatsbürgerschaft brauchten. Weil es ein Lieder- und kein Gesangswettbewerb war, spielte die Nationalität der Interpreten keine Rolle.

Die Schweiz suchte jedenfalls international nach geeigneten Sängerinnen. Der Komponist Atilla Şereftuğ hörte sich zwischen 15 und 20 Kandidatinnen an und war schon ganz verzweifelt, bis ganz zum Schluss Dions glockenhelle Stimme erklang. Dann ging, so erzählt man sich, alles ganz schnell: Umweht von Inspiration setzte sich Şereftuğ ans Klavier und komponierte in nur zwölf Minuten ein passendes Stück. Dann flog er nach Montreal, spielte das Lied Céline Dion vor, die es innerhalb einer halben Stunde fertig einsang. Als René Angélil das fertige Werk hörte, befand er ruhig: „Wir gewinnen!“ Er sollte recht behalten.

Für Dion war es gleich ein doppelter Gewinn. Sie hatte sich in ihren 26 Jahre älteren Manager verliebt und dachte, ein Sieg beim Grand Prix würde ihr diesbezüglich weiterhelfen. Angélil zögerte zunächst, doch bald waren sie ein Paar, wenn auch nur heimlich. An ihrem 25. Geburtstag verlobten sie sich, im Jahr darauf wurde geheiratet, während Dions Karriere weiter an Fahrt gewann und im Jahr 1997 mit „My Heart Will Go On“ auf ihren vorläufigen Höhepunkt zusteuerte – dem Song, zu dem in James Camerons Blockbuster die Titanic im Meer versinkt. Von 2003 bis 2007 und noch einmal von 2011 bis 2019 konzertierte Dion, wie viele Popgrößen vor ihr, schließlich im Ceasars Palace in Las Vegas. 427 Shows absolvierte sie in der zweiten Runde, wobei sie eine Gage von einer halben Million Dollar pro Show bekam. Mittlerweile hat sie mehr als 200 Platten verkauft und gilt als erfolgreichste Interpretin französischsprachiger Musik. Und das alles ist – wenn man so will – nur einem Punkt Vorsprung in Dublin zu verdanken.