Auf dem Weg zu Christian Louboutins Atelier in der Pariser Innenstadt passiert etwas Kurioses. Statt auf die Kleidung oder Gesichter von Passanten zu achten, schenkt man der Unterseite ihrer Schuhe auf einmal sehr viel Aufmerksamkeit. Denn: Wer den weltberühmten französischen Schuhdesigner kennt, weiß auch um sein Markenzeichen: die knallrote Sohle. Und tatsächlich, je näher das Ziel rückt, desto häufiger sind sie zu entdecken. Wie das weiße Kaninchen, dem Alice ins Wunderland folgt, führen einen die leuchtenden Schuhsohlen – ins Wunderland der Schuhe. Aus dem Schaufenster der Louboutin-Boutique, die sich direkt neben dem Atelier des 57-jährigen Designers befindet, leuchten exotische Muster und Farben; hier Glitzer, da Lack; mal Noppen, mal Stacheln; Stiefel und Pumps mit schwindelerregend hohen Absätzen; Frauen, die gerade die neueste Kollektion anprobieren.
Das Atelier im Hinterhof gleicht einem Wintergarten. Durch Glasfenster strahlt die Sonne von oben auf Skizzen, Schuhregale und traditionelle Masken, die Christian Louboutin zuletzt aus Bhutan mitbrachte. Mit lokalen Künstlern arbeitete er dort für eine seiner Kollektionen zusammen. Einen Kaffee und eine Zigarette lässt er sich zu Beginn des Interviews in sein Arbeitszimmer bringen. „Ist es in Ordnung, wenn ich rauche?“, fragt er. Er rauche nur eine Zigarette am Tag, dazu eine Tasse Kaffee. „Warten Sie, ich öffne das Fenster.“ Auch wenn Christian Louboutin schon immer sowohl flache als auch hohe Schuhe designte, Berühmtheit erlangte er in erster Linie durch seine extravaganten Stilettos. Doch passen die emanzipierte Frau und High Heels im Jahr 2020 überhaupt noch zusammen? Ein Gespräch über Feminismus und Weiblichkeit, Unabhängigkeit und die Schönheit nutzloser Dinge.
ARTE MAGAZIN Monsieur Louboutin, sind Sie ein Feminist?
Christian Louboutin Ich würde mich selbst nicht unbedingt so bezeichnen, aber schon in der Schule nannten mich meine Mitschüler einen Feministen. Und wenn ich jetzt darüber nachdenke, bin ich auf jeden Fall eher ein Feminist als kein Feminist.
ARTE MAGAZIN Warum hatten Ihre Mitmenschen diesen Eindruck von Ihnen?
Christian Louboutin Die Vorstellung eines schwächeren Geschlechts war und ist für mich schon immer völlig absurd. Ich dachte lange, es handele sich dabei um einen schlechten Witz. Frauen sind stark und unabhängig – auch wenn sie High Heels und Make-up tragen!
ARTE MAGAZIN Feminismus und Femininität schließen sich also nicht aus?
Christian Louboutin Absolut nicht. Ich habe nie verstanden, warum das so sein sollte. Schon als Kind nicht. Für viele galt eine Frau, die in den 1970er Jahren in Frankreich Make-up und kurze Röcke trug, entweder als Prostituierte oder als oberflächlich. Weiblichkeit wurde mit Dummheit gleichgesetzt. Das habe ich nie akzeptiert. Schauen Sie sich Tina Turner an: Sie trug immer kurze Kleider, hohe Schuhe und jede Menge Make-up. Macht sie das zu einem Dummchen? Nein. Sie ist und bleibt für mich der Inbegriff einer starken Frau.
ARTE MAGAZIN Sie sagen selbst, dass sich Frauen in hohen Schuhen stärker fühlen. Woran liegt das?
Christian Louboutin Zum einen hat es, glaube ich, mit der Körpergröße zu tun. Insbesondere im Job möchten Frauen auf Augenhöhe mit Männern sein. Zu einem männlichen Kollegen oder Chef aufzuschauen, würde eine andere – ungleiche – Arbeitsdynamik herstellen, als wenn beide gleich groß sind.
ARTE MAGAZIN Und zum anderen?
Christian Louboutin Diese sehr kleinen Objekte an den Füßen haben eine riesengroße Auswirkung auf den gesamten Körper. Nicht nur die Körpergröße verändert sich, sondern auch die Körperhaltung – physisch wie mental. Eine Frau bewegt sich in hohen Schuhen ganz anders, ist sich ihres Körpers viel bewusster.
ARTE MAGAZIN Aber tragen Frauen hohe Schuhe wirklich für sich selbst und nicht, um Männern zu gefallen?
Christian Louboutin Das eine muss das andere ja nicht ausschließen. Und natürlich sind High Heels auch Objekte der Begierde. Frauen fühlen sich sexy und spielen mit diesem Gefühl und ihrer Wirkung. Zugleich sind die Schuhe aber auch Objekte der Unabhängigkeit. Die Sängerin Jennifer Lopez hat einen Song geschrieben, der „Louboutins“ heißt. Darin zieht eine Frau ihre Louboutins an und verlässt ganz selbstbewusst ihren Mann, der sie schlecht behandelt hat.
ARTE MAGAZIN Dennoch gibt es auch immer wieder den Vorwurf, Sie würden Frauen ein veraltetes Korsett in Form von High Heels aufzwingen.
»Schuhe sind wie Gebäude, die Proportionen müssen stimmen«
Christian Louboutin Zunächst einmal habe ich schon immer, in jeder Kollektion, sowohl flache als auch hohe Schuhe entworfen. Und: Ich zwinge keine Frau, High Heels zu tragen. Allein diese Aussage finde ich Frauen gegenüber schon respektlos. Denn das würde ja bedeuten, dass Frauen zu schwach sind, um für sich selbst einzustehen. Sie glauben doch nicht im Ernst, Frauen lassen sich von Männern vorschreiben, was sie tun oder lassen sollen.
ARTE MAGAZIN Lange Zeit war das aber so. Und in vielen Gesellschaften und Ländern ist es nach wie vor die Norm.
Christian Louboutin Sie haben recht, und selbst in unserer Gesellschaft ist lange nicht alles erreicht. Solange eine Präsidentin in Frankreich nicht denkbar wäre, ist noch viel Luft nach oben.
ARTE MAGAZIN Viele moderne Frauen bringen morgens ihre Kinder zur Schule, gehen zur Arbeit, einkaufen und holen dann ihre Kinder wieder ab. Das können sie unmöglich in Ihren Pumps tun.
Christian Louboutin Das sollen sie auch gar nicht. Pumps sind nicht für jeden Tag gedacht. Aber sie können unglaublich gut die Geschwindigkeit aus dem Alltag herausnehmen. Zumindest für ein paar Stunden. Heutzutage muss immer alles schnell gehen – ab und zu zwei Gänge herunterzuschalten, kann wahre Wunder bewirken. Eine Kundin erzählte mir einmal, sie habe sich dank meiner Schuhe in ihre Straße verliebt. Zum ersten Mal nahm sie beim Gehen den schönen Brunnen und die atemberaubende Architektur in ihrer Umgebung wahr.
ARTE MAGAZIN Im ARTE-Film „Auf roten Sohlen mit Christian Louboutin“ erzählen Sie, wie gerne Sie Dinge kreieren, die keinen unmittelbaren Nutzen haben. Was gefällt Ihnen daran?
Christian Louboutin Das Schöne an nutzlosen Dingen ist, dass man die Wahl hat. Es geht dabei um Wünsche und Sehnsüchte. Essen muss jeder, um zu überleben. Aber ob Sie einen pinkfarbenen Stiletto mit Federn – „La Pluminette“ – tragen wollen, können Sie selbst entscheiden. Eine Frau kam einmal in meinen Laden, sah diesen Schuh und rief völlig entzückt: „Meine Güte, dieser Schuh ist völlig nutzlos, ich brauche ihn!“ Ich stimme ihr voll und ganz zu. Wir brauchen nutzlose, schöne Dinge. Sie geben uns Platz zum Träumen. Hätte alles einen Nutzen, wäre das Leben sehr traurig und monoton.
ARTE MAGAZIN Ist die Herstellung von „nutzlosen“ Luxusschuhen in Zeiten von Nachhaltigkeit denn noch zu verantworten?
Christian Louboutin Nur weil mir nutzlose Dinge gefallen, heißt das nicht, dass ich mich nicht für den Rest der Welt interessiere. Ich bin schon lange sehr geschockt vom Zustand unseres Planeten und habe von Beginn an verantwortungsbewusst gearbeitet. Alle Produktionsschritte sind transparent und nachvollziehbar. Bei den Materialien weiß ich genau, woher sie stammen; die meisten Teile werden in Europa hergestellt. Und wenn es um Langlebigkeit geht, dann sind meine teuren Schuhe wesentlich nachhaltiger als billige Massenware.
ARTE MAGAZIN Sind die hohen Preise Ihrer Schuhe wirklich gerechtfertigt? Sie fangen bei etwa 550 Euro an …
Christian Louboutin Der Preis hat mit Qualität und Herstellung zu tun. Schuhe sind wie Gebäude, die Proportionen müssen stimmen. Ich habe für jede Größe einen eigenen Absatz. Bei billigeren Schuhen wird eine Absatzhöhe für drei Größen benutzt. Die Proportionen stimmen nicht hundertprozentig. Meine Schuhe werden drei bis vier Tage in Form gebracht und sind dadurch sehr stabil. Bei Massenware muss alles schneller gehen und geht schneller kaputt. Ich fand es immer schwierig, das zu erklären, ohne zu sehr ins Detail zu gehen. Mittlerweile habe ich einen guten Vergleich: Nehmen Sie eine Flasche Château Petrus und daneben einen Rotwein für drei Euro. Die Silhouetten der beiden Flaschen sehen exakt gleich aus, es passt exakt der gleiche Inhalt hinein. Aber jeder versteht und akzeptiert, dass der eine Wein gut und teuer und der andere nicht so gut und günstig ist.
ARTE MAGAZIN In welcher Stadt verkaufen Sie die meisten High Heels?
Christian Louboutin Das hängt immer davon ab, wie fußgängerfreundlich eine Stadt ist. In New York zum Beispiel wird viel gelaufen, das Wetter ist durchwachsen. Dort verkaufe ich mehr Stiefel mit niedrigen oder dicken Absätzen. In Los Angeles fahren eine Menge Leute mit dem Auto, das Wetter ist traumhaft. Hier verkaufe ich entweder richtig hohe Schuhe oder ganz flache.
ARTE MAGAZIN Wie sieht es in Berlin aus?
Christian Louboutin Berlin ist ähnlich wie Paris, dort ist von allen Absatzhöhen etwas dabei. Der Unterschied in Berlin ist, dass die Leute keinen besonders großen Wert auf leuchtende Farben legen. Kaum Gold, eher Grau oder Tarngrün, alles ziemlich düster.
ARTE MAGAZIN Immerhin sind die Sohlen rot.
Christian Louboutin Zum Glück!
ARTE MAGAZIN Seit Ende Februar zeigt der Pariser Palais de la Porte Dorée eine Ausstellung über Ihre Arbeit. Wie fühlt sich das an?
Christian Louboutin Das Museum ist ein ganz besonderer Ort für mich. Ich bin ums Eck aufgewachsen und war als Kind sehr oft dort. Damals hieß es noch Museum für Afrikanische und Ozeanische Kunst. Es eröffnete mir völlig unbekannte exotische Welten. Ich begann, in meiner Fantasie zu reisen, bevor ich es viele Jahre später in echt tat. Und deshalb passt es nur zu gut, dass die Ausstellung zum einen meine Arbeit und Kreationen zeigt und zum anderen Orte, Kulturen und Personen, die mich inspiriert und beeinflusst haben. Ich möchte den Besuchern das gleiche Gefühl geben, das ich dort als Kind hatte.
ARTE MAGAZIN Läutet eine Ausstellung übers eigene Lebenswerk nicht das Ende der Karriere ein?
Christian Louboutin Nein, nein. Es ist keine Retrospektive, sondern eine Feier! Die Ausstellung zelebriert die Vergangenheit, die Gegenwart und die Zukunft. Wissen Sie, mein Lieblingsschuh ist immer noch der unvollendete. Der, den ich noch nicht entworfen habe und der nur in meinem Geist existiert.