Als die Anhänger des Laienpredigers Paul Schäfer ihrem Anführer 1961 zu Hunderten von Deutschland nach Chile folgten, ahnten sie nicht, was ihnen bevorstand. Fernab der Zivilisation, rund 350 Kilometer südlich von Santiago, errichteten sie auf dem Gelände eines verwilderten Landwirtschaftsbetriebs die sogenannte Colonia Dignidad, nach außen hin eine Exklave strenggläubiger Christen. Nur wenige Eingeweihte wussten, dass unter dem Deckmantel der Barmherzigkeit eine kriminelle Sekte wirkte, deren Macht auf psychischer und sexueller Gewalt, Sklaverei und totaler Überwachung gründete.
Schäfer köderte die Mitglieder mit dem Versprechen, sie würden sich in Chile eine unabhängige Existenz aufbauen können – eine Falle. Nur wenige, darunter die heute 86-jährige Ida Gatz, widerstanden der Verlockung. Gatz hatte Schäfer 1949 kennengelernt, als er Jugendpfleger im wendländischen Gartow war, und wurde zu seiner Vertrauten. Was sie seinerzeit nicht wusste: Bereits Ende der 1940er Jahre war Schäfer von einer anderen Kirchengemeinde fristlos entlassen worden, weil er Jungen sexuell genötigt hatte.
Bis 1961 blieb sie in der Gruppe aktiv, obwohl sie bald annahm, dass Schäfer etwas zu verbergen hatte. „Als er mich eines Tages ins Vertrauen zog und sagte, er suche nach einem Ort, an dem ihm ,niemand reinriechen‘ könne, wurde ich hellhörig“, sagt Gatz im Gespräch mit dem ARTE Magazin. Auch in kompromittierenden Momenten erwischte sie den Prediger gelegentlich. An eine Begebenheit, sie war erst 17 Jahre alt, erinnert sich Gatz besonders deutlich; da stand Schäfer mit geöffnetem Hosenstall und erigiertem Penis vor ihr: „Ich wollte etwas mit ihm besprechen und klopfte an seine Tür. Bevor er öffnete und mich hineinbat, kamen seltsame Geräusche aus dem Zimmer. Ich war völlig perplex und von der Situation überfordert“, erzählt sie heute. „Erst viel später, als Schäfers pädophile Neigungen bekannt geworden waren, begriff ich, dass er damals einen Jungen missbraucht hatte.“
Als Schäfer mit seinen Getreuen 1961 nach Chile floh – deutsche Behörden ermittelten inzwischen gegen ihn wegen Verdachts auf sexuelle Nötigung –, brach Gatz den Kontakt ab. Ihre Schwester Hilde aber „folgte entgegen meinem Rat dem Rattenfänger nach Südamerika“.
Elektroschocks und Psychopharmaka
Was dort geschah, ist an Grauen kaum zu überbieten: Auf dem autark geführten Anwesen der Sekte missbrauchte Schäfer unzählige Kinder und Jugendliche, seine Anhänger misshandelten Hunderte Menschen schwer, teils mit Elektroschocks und Psychopharmaka. Zudem arbeitete die Führungsriege bis Ende der 1980er Jahre mit dem Geheimdienst von Diktator Augusto Pinochet zusammen. Folter, Mord, die Produktion von Giftgas und das Beseitigen politischer Gegner: Mit diesem Portfolio diente sich die Sekte der Militärjunta an.
Auch in der Bundesrepublik hatte die Kolonie etliche Fürsprecher. Dem 1978 vom Waffenhändler Gerhard Mertins gegründeten „Freundeskreis Colonia Dignidad“ gehörten zeitweilig bis zu 120 Personen an, darunter der bekannte ZDF-Moderator Gerhard Löwenthal. Sogar der ehemalige CSU-Chef Franz-Josef Strauß soll die Siedlung 1977 besucht haben, berichtete die Frankfurter Rundschau 2011. Die CSU-nahe Hanns-Seidl-Stiftung bestätigte den Besuch zunächst, dementierte ihn aber später.
Das gesamte Ausmaß der Verbrechen, für die Schäfer und sein Gefolge verantwortlich waren, offenbart die Dokureihe „Colonia Dignidad – Aus dem Inneren einer deutschen Sekte“, die ARTE im März zeigt. Neben vielen Zeitzeugen kommen darin auch Vertreter der chilenischen Behörden zu Wort. Die hatten zwar schon unmittelbar nach dem Sturz Pinochets 1990 Ermittlungen gegen die Sekte aufgenommen, griffen aber erst sieben Jahre später zu. Da war Schäfer bereits nach Argentinien geflohen, wo er 2005 aufgespürt und an Chile ausgeliefert wurde. Ein Gericht in Santiago verurteilte ihn 2006 wegen sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen in 25 Fällen zu einer Freiheitsstrafe von 20 Jahren. 2010 starb der Sektenchef 88-jährig im Gefängnis.
Opferhilfe kommt nur schleppend voran
Die Leidensgeschichte der Opfer war damit nicht beendet: „Viele Verbrechen, die in der Kolonie verübt wurden, sind ungesühnt“, heißt es in einem 2019 erschienenen Dossier der Menschenrechtsorganisation European Center for Constitutional and Human Rights. Die Aufarbeitung gestaltet sich auch deshalb so zäh, weil deutsche Politiker die Machenschaften der Sekte lange verharmlosten, wie das Auswärtige Amt voriges Jahr einräumte. Deutsche Gerichte tun sich mit dem Thema ebenfalls schwer. Das zeigt der Fall Hartmut Hopp. Schäfers Stellvertreter wurde 2013 in Chile wegen Beihilfe zu sexuellem Missbrauch von Kindern zu fünf Jahren Haft verurteilt, war aber 2011 nach Deutschland geflohen. Einen Antrag Chiles, das Urteil gegen ihn in der Bundesrepublik zu vollstrecken, lehnte das Düsseldorfer Oberlandesgericht jedoch 2018 ab.
Immerhin hat die Bundesregierung 2019 einen Hilfsfonds für die Opfer und Nachfahren aufgelegt. Dessen Auszahlung „lässt jedoch auf sich warten“, sagt Meike Dreckmann, Historikerin an der FU Berlin. Was mit daran liegt, dass es Jahrzehnte nach den Geschehnissen in Einzelfällen schwierig ist, zwischen Täter und Opfer zu unterscheiden.
Viele damalige Sektenmitglieder wohnen noch immer in der Kolonie, die heute Villa Baviera heißt. „Ihre Lebensumstände sind oft prekär“, sagt Dreckmann, die ein paar Monate dort geforscht hat. „Besonders beunruhigend“ findet sie, dass „die dort geborenen Kinder die Traumata ihrer Eltern übernommen haben“. Die Betreuung der Opfer, ob in Deutschland oder Chile, sei, so die Historikerin, „leider mangelhaft“.