Das Mittelmeer ist die wichtigste Handelsroute zwischen dem europäischen und dem afrikanischen Kontinent, längst aber auch ein Symbol für die sogenannte Festung Europa. Es trifft auf die Küsten von 22 Ländern, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Um herauszufinden, was deren Einwohner eint und trennt, hat Jaafar Abdul Karim mit der Journalistin Sineb El Masrar zwei Jahre lang den Mittelmeerraum erkundet. Dabei drehten sie eine zehnteilige Dokureihe, die ARTE im August ausstrahlt.
arte Magazin Herr Abdul Karim, was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie an das Mittelmeer denken?
Jaafar Abdul Karim Strand, Sonne, Spaß, Freiheit – wenn mein Herz spricht. Wenn ich den Verstand einschalte, denke ich an eine Route, auf der viele Menschen flüchten und auf ein besseres Leben hoffen. Das Mittelmeer konfrontiert den Globalen Norden unmittelbar mit dem Globalen Süden – und die Herausforderungen des Südens haben mit Spaß wenig zu tun.
arte Magazin Was wiegt schwerer für Europa und Afrika: das Trennende oder das Verbindende des Mittelmeers?
Jaafar Abdul Karim Unsere Reise hat gezeigt, wie viel uns verbindet: kulturell, kulinarisch, musikalisch, architektonisch. Es gibt eine gemeinsame Geschichte. Die Spuren der historischen Völker, der Römer, Araber, Phönizier und Mauren, sind im Alltag präsenter, als uns bewusst ist. Ihre Hinterlassenschaften verschiedener Architekturen, wie die Alhambra in Granada, sagen viel darüber aus. Auch die Musik: In Spanien oder Malta hören wir oftmals arabische Klänge. Dann aber gibt es die Realpolitik – und eine klare Grenze. Als ich von Gibraltar aus Marokko sehen konnte, das direkt gegenüberliegt, fand ich die Nähe überwältigend. Trotzdem liegt zwischen den Landabschnitten das Mittelmeer – und eine große Diskrepanz, was den Arbeitsmarkt, die Bildung, die medizinische Versorgung und die Infrastruktur betrifft. Meine Eltern kommen aus dem Libanon. Ich bezweifle, dass ich die gleichen Chancen gehabt hätte, wenn ich dort geblieben wäre.
arte Magazin Haben Sie Ihre Ansichten zum Mittelmeerraum nach Ihrer Reise revidiert?
Jaafar Abdul Karim Ja! Ich habe gelernt, die Region anders zu betrachten. Sie ist vielfältiger, als wir das von Europa aus sehen, und hat kulturell reichlich zu bieten – ob bei Theater, Tanz oder Kulinarik. Wir berichten hauptsächlich von den Kriegen und Konflikten im Süden. Manchmal habe ich den Eindruck, wir Europäer halten uns für das Zentrum der Welt. Dabei vergessen wir, wie die Einflüsse anderer Kulturen uns zu dem gemacht haben, was wir heute sind. In der Dokureihe wollten wir den eurozentrischen Blick vermeiden und jedes Land so präsentieren, wie es ist. Wir erzählen die Geschichten der Einwohner, damit die Zuschauer sich ein anderes Bild machen können von Ländern wie Tunesien, Marokko, dem Libanon. Wir haben Libanesen begleitet, die geflüchteten Syrern helfen, und eine Gruppe von jungen Frauen in Ägypten getroffen, die gemeinsam singen, um etwas zu bewirken. Auch der Mut eines Tänzers in Tunesien, der trotz scharfer Kritik seinen Traum verwirklicht, hat mich beeindruckt. Wir haben eine Frau besucht, die den Koran neu interpretiert, und sind der ersten christlichen Gouverneurin in Ägypten begegnet. All das sind Erfahrungen, die mich inspirieren.
arte Magazin Sie moderieren eine Talkshow in einigen arabischsprachigen Ländern und sind dem Libanon stark verbunden. Welche Themen beschäftigen die Region?
Jaafar Abdul Karim Wenn ich mit den Menschen vor Ort rede, geht es um Korruption, soziale Ungerechtigkeit, die prekäre wirtschaftliche Lage. Dem Libanon ging es selten so schlecht, wie ich es gerade erlebe. Der Aufschrei der jungen Generation ist groß – weil sie keine Perspektive hat, keine Chancengleichheit. Die Freiheit, so zu sein, wie du sein möchtest – für mich die DNA meines Lebens –, ist nicht überall gleich. Es fängt damit an, dass ich aus Europa ohne Visum auf die andere Seite reisen kann, andersherum nicht. Die Menschen im Süden haben größere Herausforderungen als die im Norden. Es ist nur dieses Mittelmeer dazwischen. Deshalb gehen einige den härteren Weg über das Meer und riskieren ihr Leben. Stell dir vor, du hast studiert und keine Aussicht auf einen Job. Das frustriert. Da fängt man an, nachzudenken: Warum ist das so? Es ist wichtig, als Europäer anzuerkennen: Cool, es geht uns gut, aber lasst uns auch auf die anderen schauen! Da haben wir noch viel Potenzial. In diesem Kontext hat es mich glücklich gemacht, das Lebensgefühl auf der Südseite des Mittelmeers zu erleben. Es fasziniert mich, wie motiviert, offen und kämpferisch sich die meisten Menschen ihrem Alltag stellen und das Beste daraus machen.
arte Magazin In vielen Mittelmeer-Städten koexistieren unterschiedliche Kulturen und Religionen. Wie gut gelingt das?
Jaafar Abdul Karim Für die Dokureihe haben wir positive, inspirierende Geschichten ausgewählt. Wir zeigen die Vielfalt und dass sie funktionieren kann. Und wir wollen zeigen, wie es Individuen gelingt, trotz widriger Umstände Gutes zu tun und friedlich zusammenzuleben. Deutlich wurde dabei aber auch: Gerade was Religion betrifft, gibt es noch immer nicht genügend Gesetze, die religiöse Minderheiten schützen.
arte Magazin An welchem Ort Ihrer Reise könnten Sie sich am ehesten vorstellen, zu leben?
Jaafar Abdul Karim Malta war die Überraschung für mich. Es liegt in der Mitte und hat Einflüsse von überall. Diese kulturelle Mischung, die Menschen, das Meer waren sehr beeindruckend. Aber Berlin bleibt mein Zuhause, zumindest im Sommer.
Zur Person
Jaafar Abdul Karim, Journalist
Der TV-Moderator wurde 1981 in Liberia geboren, wuchs im Libanon und in der Schweiz auf und lebt heute in Deutschland. Seit 2019 moderiert er die erfolgreiche Talkshow Jaafar Talk bei der Deutschen Welle.